DIE ZEIT, 5. Dezember 2019
Ausführliche Version: Riffreporter, Dezember 2019
Ich arbeite mit Menschen aus aller Welt zusammen. Doch die Physik wirft uns Steine in den Weg: sie sind einfach weit weg, und alle Kommunikationstechnik lässt die Distanz noch spürbarer werden. Aber die Zukunft hält gute Lösungen bereit! Ich habe einige ausprobiert und mein Bewusstsein in Robotern und Hologrammen auf Reisen geschickt.
Das Bild der Kollegen ist schon lange eingefroren. Bewegen sie sich? Sind sie überhaupt noch da? Aktuell macht einer ein ziemlich blödes Gesicht, die Nase groß auf dem Bildschirm – offenbar hat er versucht, etwas einzustellen am Bildschirm, als er merkte, dass die Qualität nachlässt. Dann hat Skype beschlossen, ihn für uns so zu verewigen. „Was sagt denn der Kollege aus Berlin dazu? Hallo? Hallo Berlin, hört ihr uns?“ Kurz nach dem Bild verschwindet auch der Ton. So ist es immer. Danach: ein Anruf. „Was ist los? Wo seid ihr?“ „Ach komm, wir versuchen es per Telefon – stellt ihr auf Lautsprecher und wir.“ Grausam. Das ist der Tod jeder sinnvollen Besprechung über Distanz.
Andere investieren in teure Video-Konferenzsysteme, riesige Bildschirme an der Wand dienen als Fenster von Stuttgart nach Berlin. Aber irgendwie ist immer einer abwesend. Oder wir Stuttgarter schauen minutenlang in einen leeren Berliner Konferenzraum, bis sich dort irgendwann die Tür öffnet, „ach, ihr seid ja schon da. Wartet ich hol meinen Kaffee.“ Als er zurück kommt, haben wir ergeben angefangen, unsere E-Mails zu beantworten. Und hach, da sind so viele dringende Sachen in den Mails – wir müssen leider während der Besprechung immer mal wieder reinschauen. Hinterher weiß keiner, was genau besprochen wurde. Aber es war gut, dass man sich mal wieder gesehen hat.
Zusammen arbeiten über die Ferne ist gescheitert, an der Technik und an uns Menschen. Aber hej, es gibt doch Slack! Das hippe Tool, das heute fast jeder auf seinem Handy hat. Aber oje, so viele Channels, da diskutiert immer irgendeiner im Hintergrund, ein ständiger unaufhaltsamer Strom von Geplauder. Glücklich ist der, der weiß, wie man die Notifikationen im Handy abschaltet – dann drängen sich diese Fetzen Debatte nicht ständig dazwischen, wenn man ein Mal im echten Leben mit Menschen redet. Wird schon jemand eine E-Mail schreiben, falls etwas wichtiges aufkommt. Ein ungeduldiges: „Hej, schau bitte auf Slack“ - solche Mails bewahren mich davor, wichtiges zu übersehen. Ich nehme an, die Slack-Gründer hatten anderes im Sinn.
Ach und schweige, wer hier die traditionelle Telefonkonferenz ins Spiel bringt! Sie ist die Einladung, nebenbei anderes zu tun! Wie viel teure Zeit gut bezahlter Menschen wurde schon verschwendet in Telefonkonferenzen, in denen die Hälfte der Teilnehmer ihr Mikrofon auf stumm stellt, damit man das Klappern der Tastatur nicht hört, und sich nur hin und wieder sich kurz zuschalten für ein „Hmm, ja, vielleicht“ oder ein „Natürlich bin noch da!“ Was wurde besprochen? Das weiß am Ende keiner so genau.
Ich arbeite viel mit Menschen aus anderen Städten und Ländern zusammen – und ich habe noch keine gute Lösung gefunden, die echte Begegnungen ersetzt, wenn diese aufgrund der räumlichen Distanz nicht praktikabel sind. Alle diese technischen Lösungen scheinen die Distanz noch zu erhöhen. Wenn es wichtig ist, reise ich wann immer möglich hin. Eine sehr aufwendige Methode, um die Schwächen der Technik auszugleichen. Wie viele meiner Artikel in den ICEs zwischen Stuttgart und Berlin entstanden sind! Wie viele auf Flughäfen.
Wie oft habe ich mir gewünscht, dass endlich jemand das Beamen erfindet! Aber das scheint technisch schwierig zu sein nach allem, was die Experten davon berichten.
Ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht (face-to-face) gilt in der Kommunikationstheorie als Gold-Standard. Nur so können alle Nuancen der Kommunikation genutzt werden, unter anderem Gestik, Mimik, der Klang der Stimme, und auch der Körper: jemandem im richtigen Moment zu berühren, kann ebenfalls den Sinn von Gesprochenem verändern. Auch der Augenkontakt ist wichtig: Forscher haben lange daran getüftelt, wie der Blickkontakt bei Videotelefonaten per Skype erhalten werden kann: schließlich schauen beide Gesprächspartner auf den Bildschirm anstatt in die Kamera, um den jeweils anderen zu sehen – also nach unten aus Kamera-Perspektive. Doch wer genügend Abstand zu seinem Computer hält, sieht heute: das Problem ist per Software gelöst: es ensteht die Illusion eines Blickkontakts.
Die Kommunikation per e-mail hat freilich die meisten Schwächen. Schriftlich entstehen viele Missverständnisse – und keine Nähe. Eine Studie amerikanischer und kanadischer Forscher ergab beispielsweise, dass Menschen 34 Mal erfolgreicher sind andere zu überzeugen, an einer Umfrage teilzunehmen, wenn sie ein persönliches Gespräch führen als wenn sie ihr Angebot schriftlich formulieren – selbst wenn sie selbst der Ansicht sind, schriftlich überzeugender zu sein.
Schriftliche Kommunikation mag sich für Verträge und Juristisches eignen, für das Sammeln von Tagesordnungspunkten. Für alles, was sich eindeutig mit Worten ausdrücken lässt. Für alles andere birgt sie Gefahren.
Und die MIT-Psychologin Sherry Turkle klagt schon seit vielen Jahren, dass Technologie und soziale Medien uns einsamer machen, weil der Kommunikation via Technologie zentrale Bestandteile fehlen. In Ihrem Buch „Reclaiming Conversation: The Power of Talk in a Digital Age“ warnt sie, die Empathie ginge verloren, weil wir unsere Kommunikation in die sozialen Medien verlegt haben anstatt von Angesicht zu Angesicht miteinander zu reden. Ich stimme ihr in vielem zu. Allerdings glaube ich nicht, dass wir die Technik verdammen sollten. Wir sollten lieber schauen, wie wir sie an unsere Kommunikationsbedürfnisse anpassen können.
Kürzlich schien ich einer Lösung nahe zu sein: Als mir der Pressesprecher einer VR-App anbietet, die Besprechung doch besser direkt in der Virtuellen Realität durchzuführen, bin ich begeistert. Ich habe viel in der Virtuellen Realität recherchiert, und finde, sie ist die beste Alternative zu einem analogen Treffen. Eine virtuelle Begegnung fühlt sich fast so an wie eine echte Begegnung: die Grafik im Headset vermittelt ein erstaunlich echtes Raumgefühl, ich kann auf Menschen zugehen, mich neben sie setzen. Ich kann in manchen Apps sogar auf ihren Bildschirm schauen. Und ich kann nichts anderes nebenbei machen: ich sehe meinen Bildschirm nicht einmal, die um Aufmerksamkeit schreienden E-Mails sind weit weg.
Nur leider kann ich auch meine Tastatur nicht sehen und auch nicht meinen Schreibblock. Das macht es schwierig, beim virtuellen Treffen Notizen zu machen. Und noch etwas fehlt: der Kaffee hinterher. Die besten Erkenntnisse nehme ich oft von informellen Gesprächen im Anschluss an das offizielle Programm mit. Das kurze Gespräch zwischen Tür und Angel. Die Nachfrage, anlässlich der ein Experte einen Gegenstand aus seinem Labor holt und das Thema greifbar werden lässt. Aber virtueller Kaffee ergibt keinen Sinn. Und ich kann Dinge in der Virtuellen Realität nicht anfassen, um sie besser zu begreifen.
Ganz zu schweigen von Menschen, die gemeinsam an einem physikalischen Objekt arbeiten. Denen hilft kein virtueller Treffpunkt, denn das materielle Ding verweigert sich der Virtualität. Aber es gibt eine Lösung auch dafür. Sie macht das Zusammenarbeiten über Distanz möglich, ganz ohne reisen. Zumindest eine Vision – die, je nachdem, wen man fragt, mehr oder weniger weit gediehen ist.
Kurz nach meiner virtuellen Pressekonferenz stolpere ich über diese Lösung. Ich müsste unbedingt die jüngsten Erfolge der japanischen Telepräsenz-Forschung kennen lernen, empfiehlt mir ein Interviewpartner in Tokio. „Nirgendwo auf der Welt ist man so weit.“ Mindestens zwei japanische Startups kämpfen darum, den perfekten Roboter zu bauen, der einen Menschen überall auf der Welt vertreten kann. Beide haben einen Wettbewerb der X-Prize Foundation im Auge, den „Ana Avatar Xprize“: Der Preis in Höhe von zehn Millionen Dollar soll wird im Jahr 2022 an jenes Team vergeben, welches das beste Avatarsystem gebaut hat. Ziel sei, die Sinne und die Präsenz eines Menschen an einen entfernten Ort zu transportieren »und zwar so, als ob dieser wirklich dort wäre.« Aktuell sind rund 30 Teams im Rennen.
Wie das aussehen könnte, zeigt das Unternehmen „Teleexisence Inc“ auf seiner Website: dort zieht sich ein Mann ein VR-Headset und Handschuhe über und wählt einen Ort auf einem Display aus. An diesem Ort setzt sich ein Roboter in Bewegung und geht für den Mann in einen Surfladen. Der Mann sitzt gewissermaßen im Roboter, er hat sein Bewusstsein in ihn gebeamt: er sieht in seinem Headset das Kamerabild der Augen des Roboters, er trägt Handschuhe, auf die das übertragen wird, was die Sensoren in den Roboterhänden messen. Der Mann streicht über verschiedene Surfboards und lässt sich von einem Verkäufer beraten: seine Stimme spricht aus dem Roboter.
Teleexistence Inc wurde von Susumu Tachi gegründet, einem Professor der Tokio University, der schon seit den 1980er Jahren an Teleexistenz forscht. Bei meinem Besuch im Labor zeigt sich allerdings, dass die Technik noch weit von der Surf-Laden-Vision entfernt ist. Das Modell reagiert an diesem Tag viel langsamer als die Forscher wollen: die Internetverbindung ist schlecht – und das genügt schon, um einen solchen Roboter erstarren zu lassen. Der Mann würde nun das Surfbrett anfassen, doch der Roboter würde erst Sekunden später wirklich seine Hand bewegen – und das Signal im Handschuh wäre noch später zu spüren. Das ist der Tod der Immersion: so fühlt sich der Roboterkörper nicht an wie der eigene Körper. Allzu viel verraten die Forscher nicht über den Stand ihrer Technik – wer weiß, was die Journalistin der Konkurrenz verrät.
Beide Startups beäugen sich gegenseitig misstrauisch. In einem Film wirkt es, als könne einer der Prototypen laufen. „Das kann nicht sein“, ruft der Konkurrent aus – und in der Tat: eine Nachfrage ergibt, dass der Roboter rollt. In einem anderen Video sieht man einen der Roboter eine Tür öffnen; seine Hand sieht der eines Menschen sehr ähnlich. Aber kann das sein? Türen öffnen, das Konzept Klinke – damit haben Roboter oft noch Schwierigkeiten. „Solange sie nicht zeigen, wie das genau mit der Hand funktioniert, glaube ich das nicht“, sagt ein Professor.
Die Konkurrenz ist noch vorsichtiger. Nein, man könne sich nicht im Lab treffen, schreibt Yuzi Tazaki vom Projekt „Meltin Avatar“ im Vorfeld. Es sei auch nicht möglich, den aktuellen Prototypen auszuprobieren. Wir treffen uns im Café, und Tazaki bleibt geheimnisvoll. Kann der Avatar wirklich laufen? Türen öffnen? Er zuckt mit den Schultern. „Da das menschliche Gehirn an den Körper gebunden ist, sollte der Mensch in der Lage sein, sich durch den Erwerb eines neuen Körpers weiter zu entwickeln“, sagt er.
Vor meinen Augen formt sich das Bild meines künftigen Stellvertreters. Er kann nur rollen, und er hat vermutlich Schwierigkeiten, eine Tür zu öffnen. Er wird weit weniger flexibel sein als ich. Dafür ist er „einfach schon dort“, und ich muss nicht reisen. Ich kann seinen Körper benutzen, um Menschen am anderen Ende der Welt zu besuchen – ohne ein Flugzug zu besteigen. „Das ist vielleicht nichts für einen Strandurlaub“, räumt Tazaki ein. Die Sonne auf der Haut wird man nicht spüren können, auch das Meerwasser nicht. Aber Geschäftsreisen lassen sich auf diese Weise ersetzen. „Menschen können sogar auf Distanz zusammen an einem Werkstück arbeiten“, sagt Tazaki: sie kommen einfach per Roboter.
Die japanische Fluggesellschaft Ana ist einer der Hauptsponsoren des Preises. Aber warum sponsert eine Fluggesellschaft einen Avatar, dessen Entwicklung ihr Geschäftsmodell in Frage stellt? „Naja, sie werden auch gemerkt haben, dass sie ein neues Geschäftsmodel brauchen“, sagt Tazaki etwas ratlos. „Menschen wollen weniger fliegen.“
ANA selbst hat in der Tat gerade ein eigenes Telepräsenz-Projekt gestartet, das Menschen helfen soll, die physisch nicht mobil sind oder Flugangst haben. An ihrer Stelle sollen im Sommer 2020 1000 Roboter an jene Orte fliegen, die sie selbst nicht bereisen können. Die Motivation dahinter entsprang der eigenen Begrenztheit: Die Flugindustrie erreicht jedes Jahr nur sechs Prozent aller Menschen (von denen viele mehrmals fliegen), sagte Kevin Kajitani vom Digital Design Lab der Fluggesellschaft dem US Tech-Blog „Geekwire“: „So wurde uns klar, dass wir einen neuen Durchbruch finden mussten, um mehr Menschen physisch verbinden zu können.“ Als größte japanische Fluglinie entspreche es der eigenen Rolle, innovativ zu sein.
Interessanterweise begegne ich diesem Thema nach meiner Recherche in Tokio immer wieder, auch in Deutchland. Viele Unternehmen wollen in der Tat sparen, schicken ihre Mitarbeiter nicht mehr auf Flugreisen, sondern präferieren Video- oder Telefonkonferenzen. Mit allen Nachteilen. Freunde aus großen Unternehmen berichten, dass sie schlechtere Deals abschließen, weil der persönliche Kontakt fehlt. Und dass man bei Telefon- und selbst bei Videokonferenzen nie weiß, wie anwesend die andere Person in Wirklichkeit ist und was sie nicht noch nebenbei macht.
Und mir begegnet das auch in der Forschung: kaum jemand reist so viel wie Wissenschaftler - hier auf eine Konferenz und da auf einen Talk. Das ist ein großer Aufwand, von der Reisezeit an sich über die Zeitverschiebung und das Warten an Flughäfen. „Wir haben gemerkt, dass wir die guten Speaker nicht mehr bekommen“, sagt David Lefevre, Direktor des EdTech Lab des Imperial College London, „es lohnt sich nicht für sie, für einen einstündigen Vortrag über den Ozean zu fliegen.“
Lefevre machte sich kurzerhand auf die Suche und fand eine bezahlbare Lösung, die dem Beamen schon recht nahe kommt: seither kommen Speaker als Hologramm nach London. Die Vortragende wird dafür in einem Studio als Punktewolke aufgenommen und am Zielort lediglich auf eine Glasscheibe projiziert, während Software die Illusion von Tiefe erzeugt. Für das Publikum sieht es so aus, als stehe dort auf der Bühne die reale Person.
„Die Illusion ist perfekt, selbst wenn man ganz nah herangeht“, sagt Lefevre. Die Vortragende hält den Vortrag in Echtzeit, sie sieht das Publikum auf einem großen Bildschirm. „Sie kann auf Fragen antworten und den Fragenden dabei direkt in die Augen sehen“, schwärmt Lefevre, „ihre Präsenz ist unglaublich stark.“ Der Vorteil dieser Technologie sei zudem, dass man nicht für ein einzelnes Event bezahle: die Universität hat sich ein mobiles Capture-Studio gekauft, mit dem notfalls Techniker zum Vortragenden reisen können, wenn er an einem Ort lebt, an dem es kein entsprechendes Studio gibt. Die Kosten pro Auftritt liegen derzeit bei rund 1000 Pfund, so Lefevre – also niedriger als die Spesen einer interkontinentalen Reise.
Ein Jahr nach meiner Recherche in Tokio bekomme ich eine Einladung einer NGO, in Istanbul einen Vortrag zu halten über künstliche Intelligenz und Ethik. Es ist eines meiner Herzblutthemen, ich würde das wirklich gerne tun. Aber gleichzeitig habe ich Sicherheitsbedenken. Ich war vor vielen Jahren als Wahlbeobachterin in der Türkei und wurde von der Polizei in einem Hotel festgesetzt. Damals war ich zuversichtlich, dass mich ein deutscher Ausweis schützt. Doch nun sind kritische Journalisten in der Türkei eingesessen, und auch ein deutscher Pass hat nicht geholfen.
Da fällt mir ein, dass das ein toller Testfall für eine Teilnahme als Hologramm wäre. Diese Lösung hätte beinahe alle Vorteile einer leibhaftigen Teilnahme – und den Vorteil, dass ein Hologramm nicht verhaftet werden kann. Ich beschreibe dem Veranstalter die Technologie, verlinke meinen Artikel und ein Video, das recht deutlich zeigt, wie „echt“ diese Person vor Ort ist. Wäre das nicht die Lösung? Es tue ihr sehr leid, schreibt mir die Veranstalterin zurück, aber dann müsse sie eine andere Speakerin finden. „Wir wünschen uns eine sehr interaktive Diskussion, und sie ist nicht für Online-Vorträge geeignet.“
Die Technik mag bereit sein für Avatar-Veranstaltungen aller Art. Die Menschheit ist es noch nicht.