Wissenschaftsreportage Technik Eva Wolfangel

Die ZEIT, 22. Februar 2018 - Ausschnitt

Com­pu­ter­tech­nik for­dert Au­gen und Oh­ren, al­le an­de­ren Sin­ne lie­gen brach. Jetzt ma­chen For­scher di­gi­ta­le Wel­ten fühl­bar.

Ach, wä­re er doch Mu­si­ker ge­blie­ben! Wie rich­tig und wie falsch zu­gleich die­ser Wunsch ist, das zeigt sich in die­sem schlich­ten In­for­ma­tik­la­bor zwi­schen Ka­beln und tech­ni­schen Ge­rä­ten. Brent Gil­le­spie, Ma­schi­nen­bau-Pro­fes­sor der Uni­ver­si­ty of Mi­chi­gan und ge­ra­de für ein For­schungs­frei­se­mes­ter in Stutt­gart, sitzt vor ei­nem kom­pli­zier­ten me­cha­ni­schen Auf­bau. Er dreht hier und da vor­sich­tig an ei­ner Schrau­be, schlägt die wei­ße Tas­te am ei­nen En­de des Auf­baus an und be­ob­ach­tet ganz ge­nau, was das in der Ap­pa­ra­tur be­wirkt. Am an­de­ren En­de, ei­nen Me­ter ent­fernt, schlägt ein mit Filz über­zo­ge­nes Häm­mer­chen auf ei­ne Sai­te. »Stein­way Ac­tion« steht auf ei­ner klei­nen Blech­ta­fel, dar­un­ter ei­ne Wid­mung. Die­se Tas­te, mit­samt der Me­cha­nik aus ei­nem Kon­zert­flü­gel aus­ge­baut, ist das Ge­schenk ei­nes be­freun­de­ten Mu­sik­pro­fes­sors.

Wer Gil­le­spie da­bei be­ob­ach­tet, wie er sich in die­ses In­stru­men­ten-Ex­po­nat ver­tieft, der wünscht ihm nichts mehr als die Er­fül­lung sei­nes gro­ßen Traums: Der In­ge­nieur möch­te in al­len zehn Fin­ger­spit­zen das Ge­fühl er­le­ben, so ein In­stru­ment zu spie­len – oh­ne ei­nen Kon­zert­flü­gel in sein La­bor schaf­fen zu müs­sen. Dem In­for­ma­ti­ker, zur­zeit Gast des Max-Planck-In­sti­tuts für In­tel­li­gen­te Sys­te­me, geht es um die sinn­li­che Er­fah­rung, wel­che die Me­cha­nik ei­ner Stein­way-Tas­te in den Tau­sen­den Tast­zel­len ei­nes Pia­nis­ten-Fin­gers hin­ter­lässt. Lässt sich die­ses Emp­fin­den künst­lich so gut nach­bil­den, dass nichts fehlt im Ver­gleich zum Ori­gi­nal? Gibt es das Stein­way-Ge­fühl oh­ne den teu­ren Flü­gel?

Der ers­te Schritt ist, zu be­grei­fen, wie der Sin­nes­ein­druck ei­nes ein­zel­nen Tas­ten­drucks zu­stan­de kommt. Der nächs­te ist, ihn di­gi­tal nach­zu­bil­den – al­so oh­ne die­sen gan­zen kom­pli­zier­ten me­cha­ni­schen Auf­bau. Für Brent Gil­le­spie wä­re es bei Wei­tem ein­fa­cher ge­we­sen, Pia­nist zu blei­ben und den Stein­way zu ge­nie­ßen.

Für die For­schung ist es ein Glücks­fall, dass er es nicht blieb, ob­wohl es durch­aus ei­ne Zeit lang so aus­sah, als kön­ne er sich sei­nen Le­bens­un­ter­halt gut in den Kon­zert­sä­len der Welt ver­die­nen. Ku­rio­ser­wei­se stör­te ihn aus­ge­rech­net ei­ne Sa­che: »Ich wur­de ein Snob. Ich woll­te nur noch auf dem Flü­gel spie­len.« Das ha­be sich ein­fach bes­ser an­ge­fühlt, als auf ei­nem Kla­vier zu mu­si­zie­ren. Doch ein Snob woll­te er nicht sein, und oben­drein hat­te Gil­le­spie ei­ne zwei­te Lei­den­schaft: Auf den Mas­ter­ab­schluss in Mu­sik folg­te ein Mas­ter in Ma­schi­nen­bau. Schließ­lich pro­mo­vier­te er in Stan­ford, es lief al­so wie­der gut, doch dann stör­te ihn auch hier et­was. Aus sei­nem Be­rufs­le­ben ver­schwand das Spü­ren. »Wir ent­wi­ckeln Tech­no­lo­gi­en mit au­dio­vi­su­el­lem Feed­back«, be­schreibt Gil­le­spie. »Das ist ein­fach, aber et­was Wich­ti­ges fehlt: die Hap­tik.« In­ter­ak­ti­on mit Ge­rä­ten be­schränkt sich zu­neh­mend auf Se­hen und Hö­ren. Von der Schreib­ma­schi­ne über die Com­pu­ter­tas­ta­tur bis zum Smart­pho­ne – die Ge­rä­te wur­den kom­for­ta­bler­wei­se im­mer klei­ner. »Aber wir ha­ben et­was Gro­ßes ver­lo­ren, als wir die Tas­ten weg­ge­nom­men ha­ben.«

Künst­li­che Er­satz­ge­füh­le tre­ten an die Stel­le greif­ba­rer Ein­drü­cke

Was dem In­for­ma­tik­pro­fes­sor aus Mi­chi­gan in sei­ner un­ty­pi­schen Bio­gra­fie ab­han­den­ge­kom­men ist, das be­schäf­tigt ge­ra­de ei­ne gan­ze Bran­che. Die In­ge­nieu­re be­mer­ken, dass sie ein zen­tra­les mensch­li­ches Be­dürf­nis ver­nach­läs­sigt ha­ben: das nach Sin­nes­ein­drü­cken jen­seits von Se­hen und Hö­ren. Zwar ha­ben Hirn­for­scher im­mer wie­der be­tont, wie wich­tig es sei, Din­ge im Wort­sin­ne zu begrei­fen, um die Welt zu ver­ste­hen. Doch die Tech­nik hat sich bis­her ge­nau ins Ge­gen­teil ent­wi­ckelt, sie ent­zieht so­zu­sa­gen den Fin­ger­spit­zen das Ge­fühl oder ge­ne­rel­ler ge­sagt: den Tast­zel­len.

Die sen­so­ri­schen Lü­cken, die dar­aus ent­stan­den, füll­ten Ent­wick­ler mit künst­lich er­zeug­ten Er­satz­ge­füh­len. Schon die Ser­vo­len­kung ha­be das ge­zeigt, er­in­nert sich Gil­le­spie: Als sie zu per­fekt wur­de, be­schwer­ten sich Fah­rer, weil sie die Stra­ße nicht mehr spür­ten. Folg­lich wur­den Ser­vo­len­kun­gen so aus­ta­riert, dass die Bo­den­be­schaf­fen­heit wie­der über­tra­gen wur­de. Und als die Smart­pho­nes mit ih­ren Touch­dis­plays in die Welt ka­men, fühl­ten sich vie­le al­lein­ge­las­sen mit vir­tu­el­len Tas­ten, die nicht fühl­bar re­agier­ten. Ste­phen Brews­ter von der Uni­ver­si­ty of Glas­gow, ein Vor­den­ker der Hap­tik in der Mensch-Com­pu­ter-In­ter­ak­ti­on, zeig­te schon zur Ge­burts­stun­de des iPho­nes 2007 in ei­ni­gen Stu­di­en, dass Men­schen deut­lich we­ni­ger Schreib­feh­ler ma­chen, wenn die Tas­ten ein fühl­ba­res Feed­back ge­ben. Wer heu­te ei­nen Text mit­tels Touch­dis­play ein­gibt, spürt auf vie­len Smart­pho­ne-Mo­del­len ei­ne win­zi­ge Vi­bra­ti­on bei je­dem Buch­sta­ben. Schon die­ser bil­li­ge Er­satz er­zeugt das be­ru­hi­gen­de Ge­fühl, et­was aus­ge­rich­tet zu ha­ben. Un­ser Ge­hirn über­setzt die­se un­be­stimm­te Vi­bra­ti­on in das, was es er­war­tet: das Ge­fühl von Tas­ten­druck.

Aber ist sol­cher Er­satz ge­nau­so gut? Gil­le­spie schüt­telt, ein­ge­zwängt zwi­schen Stein­way-Tas­te und Ka­beln, den Kopf. Ihn er­in­ne­re das al­les an das Auf­kom­men des E-Pia­nos. Das ha­be es zwar vie­len Men­schen er­mög­licht, Kla­vier zu spie­len, die sich ein me­cha­ni­sches In­stru­ment nicht leis­ten könn­ten. Aber gleich­zei­tig sei es – hap­tisch ge­se­hen – ein bil­li­ger Er­satz. Der Tast­for­scher führt das mit sei­ner Flü­gel­tas­te vor und er­klärt, wie viel bes­ser man ei­nen Tril­ler auf ei­nem Flü­gel als auf ei­nem Kla­vier spie­len kann, wäh­rend das mit ei­nem elek­tri­schen Kla­vier gar nicht ge­he. Weil des­sen Tas­ten nur ei­ne Mas­ke sei­en, die le­dig­lich ei­nen elek­tri­schen Kon­takt aus­lö­se, es gibt kei­ne Sai­te, kein Häm­mer­chen schlägt. Gil­le­spie fährt zart mit dem Fin­ger an sei­ner Stein­way-Tas­te ent­lang. »Hier drückt man die Tas­te, und das al­les be­wegt sich. Am En­de soll der Ham­mer nicht un­ten blei­ben«, es braucht He­bel und Um­we­ge, »das ist me­cha­nisch kom­plex«. Auf den üb­li­chen E-Pia­nos lässt sich ei­ne Tas­te nicht mehr­mals halb an­schla­gen. Hier ist die di­gi­ta­le Über­set­zung so­zu­sa­gen grob feh­ler­haft. »Das ist scha­de, denn Mu­sik gibt uns die Mög­lich­keit, uns aus­zu­drü­cken. Ein In­stru­ment ist die Er­wei­te­rung un­se­res Kör­pers.«

»Der Sog der vir­tu­el­len Rea­li­tät ist groß«, sagt der Pro­fes­sor

Gil­le­spie ist kein Kul­tur­pes­si­mist. Er sieht das Di­gi­ta­le als gro­ße Chan­ce: »Wir sind nicht mehr ab­hän­gig von der teu­ren Me­cha­nik, es gibt so viel zu ent­de­cken!« Dann muss sich auch nie­mand mehr als Snob füh­len, weil er nur noch auf dem Flü­gel spie­len will. »Wir kön­nen die­ses Ge­fühl pro­gram­mie­ren« – ir­gend­wann. Erst ein­mal ar­bei­tet er in sei­nem La­bor an ei­ner auf­wen­di­gen Ap­pa­ra­tur mit vie­len klei­nen Mo­to­ren, die das Emp­fin­den beim Flü­gel­tas­ten­druck si­mu­lie­ren soll. Mo­to­ren, al­so ech­te Be­we­gun­gen, sind aus sei­ner Sicht der ers­te Schritt zum Ziel: »Ei­ne gu­te Il­lu­si­on.« Wenn das prin­zi­pi­ell funk­tio­nie­re, wer­de die Ap­pa­ra­tur klei­ner wer­den und schließ­lich güns­ti­ger – wie al­le Tech­nik. Sie ska­liert, sa­gen In­for­ma­ti­ker. Dann ist das Stein­way-Ge­fühl be­reit für den Mas­sen­markt. Das ist Gil­le­spies Traum.

Bis da­hin ist es al­ler­dings ein wei­ter Weg. Seit der Jahr­tau­send­wen­de ist den For­schern und Ent­wick­lern we­nig an­de­res ein­ge­fal­len als Vi­bra­ti­on, um das Spü­ren zu­rück­zu­brin­gen. Sie ist ein ein­fa­ches und bil­li­ges Mit­tel, um ei­ne Be­rüh­rung zu imi­tie­ren. Am deut­lichs­ten wird das Pro­blem in der vir­tu­el­len Rea­li­tät (VR), die­ser ra­di­ka­len Al­ter­na­ti­ve zur phy­si­schen Welt, die dank mo­der­ner Vi­de­o­bril­len und de­tail­lier­ter Com­pu­ter­gra­fik er­staun­lich echt wirkt. Bis auf die Phy­sik: Man kann dort Din­ge an­fas­sen, in die Hand neh­men, an an­de­re wei­ter­rei­chen. Aber sie wie­gen nichts. Wer ei­ne Wand be­rührt, spürt viel­leicht ei­ne Vi­bra­ti­on, mehr nicht, dann glei­tet die Hand hin­durch. Spä­tes­tens in der VR wird klar, dass die Pau­schal­lö­sung Vi­bra­ti­on ei­ne schlech­te hap­ti­sche Pro­the­se ist, ei­ne, die den Phan­tom­schmerz ver­stärkt.

Da­mit stei­gen die Chan­cen auf Ver­än­de­rung. »Der Sog der vir­tu­el­len Rea­li­tät ist groß«, sagt Pa­trick Bau­disch, Pro­fes­sor für Mensch-Com­pu­ter-In­ter­ak­ti­on am Pots­da­mer Has­so-Platt­ner-In­sti­tut (HPI), »Hap­tik könn­te jetzt Main­stream wer­den.« Er be­ob­ach­tet die Sze­ne schon seit Lan­gem, nun hofft er auf den Durch­bruch »in ei­ne Welt, die nicht nur aus Bild und Ton be­steht«. Als er stu­diert ha­be, Mit­te der neun­zi­ger Jah­re, sei die In­for­ma­tik auf ei­nes be­schränkt ge­we­sen: »Da­ten rein und Da­ten raus.« Das ha­be sich bis heu­te kaum ge­än­dert – doch jetzt ste­he ein Wan­del an. »Wir er­wei­tern uns um die Di­men­si­on ei­nes kör­per­li­chen Er­leb­nis­ses.« Bei In­for­ma­tik­kon­fe­ren­zen hört man der­zeit öf­ter Sät­ze wie je­nen, dass Ge­gen­stän­de ei­gent­lich auch nichts wei­ter sei­en als aus­ge­druck­te Da­ten. Für die In­for­ma­ti­ker zählt das Phy­si­sche auf ein­mal zu ih­rem Zu­stän­dig­keits­be­reich.

(Das ist nur der Anfang meiner aktuellen Geschichte über das Fühlen in der digitalen Welt in der ZEIT 09/2018. Aus rechtlichen Gründen erscheint sie hier nicht komplett. Hier kann man weiterlesen.)