Süddeutsche Zeitung am Wochenende, 26. August 2017
Florian Schumacher optimiert sein Leben, indem er alles misst, was sich messen lässt. Manchmal hinterlässt das Rätsel.
Der Regen spielt am frühen Morgen mit feinen Fingern Cembalo auf den Blättern der Bäume, ein paar Menschen radeln missmutig durch den Englischen Garten, das grelle Grün der Blätter schmerzt in den schlaftrunkenen Augen, und Florian Schumacher atmet tief durch. 15 Regentropfen, Schritt, Schritt, einatmen, Schritt, Schritt, ausatmen 15 – 2 –1- 2 - 2 1, er fühlt, wie der Rhythmus Leben in die müden Glieder bringt und wie der steigende Puls den Körper sanft weckt 80, 90, 100, 120, 130, der Läufer schaut auf die Uhr, nickt, lächelt, trabt.
Der Münchener rennt und grinst, lässt einen Nackten auf der FKK-Wiese links und die Surfer auf der Welle des Eiskanal recht liegen, und schon um 7.23 Uhr schließt sich der erste Kreis des Tages, wie er mit einem Blick auf seine Uhr feststellt: der grüne Kreis auf dem Display ist mit jedem Schritt ein bisschen vollständiger geworden, jetzt ist er perfekt. Das heißt: 30 Minuten lang hat sich der 37jährige Berater an diesem regnerischen Dienstag schon mit einem Puls von über 130 Schlägen pro Minute bewegt. „Erstes Ziel erreicht“, sagt er zufrieden. Auch der zweite Kreis, blau, ist schon zu sieben Zwölftel erledigt – also immerhin mehr als die Hälfte, und das zu einer Zeit, zu der für den Rest von München der Tag gerade erst anfängt: 470 Kalorien hat er an diesem Tag bereits mit Aktivität verbraucht. 6896 Schritte zeigt Schumachers Schrittzähler an. „Die Zehntausend schaffe ich heute wohl noch“, sagt er. Nur der dritte Kreis, der erfordert Disziplin den ganzen Tag über. Oder Gewohnheit: über zwölf Stunden muss Schumacher einmal pro Stunde kurz aufstehen und sich bewegen. Verstößt er dagegen, brummt seine Smartwatch.
Die Kreises des Alltags sind nur ein Trick von vielen, und eigentlich noch der einfachste in Florian Schumacher Leben, das optimal sein soll, so optimal wie irgend möglich. Und dafür möchte er alles ganz genau wissen. Der Münchener Berater hat die so genannte Quantified-Self-Bewegung in Deutschland mit aufgebaut, weil er 2011 auf einer Konferenz in Amsterdam angetan war von diesem Menschenschlag: „Die proaktive Lebensgestaltung hat mich begeistert, dieser Wille, sein Leben zu verändern.“ Schumacher kehrte zurück nach Deutschland, gründete Qunatified-Self-Gruppen in Berlin und München, deren Treffen er bis heute einberuft. Er hält die Community auf dem Laufenden, hält Vorträge über neue Messmethoden und mögliche Erkenntnisse. 31 Prozent aller Deutschen nutzen nach Erkenntnissen des Verbandes Bitkom einen Fitnesstracker – sei es eine Smartwatch, ein Fitness-Armband oder eine Fitness-App. Am liebsten messen die Nutzer dieser Geräte neben ihrem Blutdruck (25 Prozent) den Puls (22 Prozent) sowie die gegangenen Schritte (62 Prozent). Nur 5 Prozent messen ihr Stresslevel.
Dabei kann man viel mehr messen und optimieren, findet Schumacher. Er testet jede erdenkliche Technik, um alle Werte zu messen, die ein Leben so mit sich bringt. Über die Zeit ist er einer der führenden Experten dieser Selbstvermessenden geworden, immer wieder wird er zu Vorträgen eingeladen, die Hersteller schicken ihm ihre Produkte, damit er sie auf Herz und Nieren testet. Das alles soll kein Selbstzweck sein. „Das Ziel ist, über Tests und Vermessung etwas zu finden, das man optimieren kann, und dann eine Routine zu entwickeln.“ Das Messen an sich soll dabei so wenig Zeit wie möglich in Anspruch nehmen: fast alles läuft nebenher, verschiedene smarte Geräte an seinem Körper und in seiner Umgebung protokollieren sein Leben. In vielen wissenschaftlichen Studien hat er gelesen, wie sich Gewohnheiten ändern lassen. Die Essenz: man muss es einfach tun. Welche Anzahl an Wiederholungen es bedarf, um eine Gewohnheit zu ändern, ist allerdings umstritten. Essensgewohnheiten zu ändern ist dabei wohl am aufwendigsten: Wissenschaftler wie der Hirnforscher Gerhard Roth gehen davon aus, dass es etwa drei Jahre dauert, bis sich hier eine Gewohnheit etabliert hat. Wer mehr Sport treiben soll, dem nutzt ein so genannter „Auslösereiz“, erklärt die Sportwissenschaftlerin Julia Thurn, die an der Uni Stuttgart über Gewohnheiten promoviert hat: beispielsweise die Joggingschuhe am Bett. Wenn das Gehirn das Aufstehen und Sehen der Laufschuhe mit dem Joggen verknüpft, braucht man weniger Willenskraft um aufzubrechen.
Mit einsiebenzwölftel geschlossenen Kreisen schließt Schumacher die Wohnungstür auf, der Puls bei 95, pfeffert die Schuhe in die Ecke, schlüpft in einen eng anliegenden Trainingsanzug, befestigt den Tabletcomputer am Spiegel und turnt. Bizeps, Tripezs, Schulterrotatoren, schräge und gerade Bauchmuskeln, jeder Muskel kriegt sein Fett weg. Sensoren im Anzug messen ihre Spannung, und der Sportler vor dem Spiegel kontrolliert auf dem Tablet den Effekt des Trainings in Echtzeit. Ist die Schulter verspannt? Hier noch ein bisschen loslassen, da noch mehr anspannen. Schöne Symmetrie.
Beim Frühstück kurzes Grübeln: der Schlaf war unruhig, melden die Sensoren im Bett. Lag das am späten Kaffee? Wobei: vor einigen Wochen hat er ein ungewöhnliches Muster zwischen Kaffeekonsum und Schlaf entdeckt, sagt Schumacher. Je mehr Kaffee er an einem Tag getrunken habe, umso besser habe er geschlafen. Alkohol hingegen führe zu einem erhöhten Ruhepuls in der Nacht, sagt er, ebenso wie eine anfliegende Grippe, und Gäste am Abend zu schlechter Luft in der Wohnung. Auch das ein Rätsel: immer wenn er und seine Partnerin Zuhause seien, sinke die Luftqualität enorm, trotz offener Fenster. Zwei rote Balken zeigt das Smartphone für die vergangene Nacht, am Abend waren Freunde zu Besuch. „Wieso bloß?“. Schumacher streichelt die beiden Zimmerpflanzen, die er eigens dafür gekauft hat und die laut einer Nasa-Studie gute Luftfilterer sein sollen, und schaut sie an als wolle er fragen ‚wieso filtert er nicht‘? „Vielleicht dünsten die neuen Blumentöpfe gerade noch Schadstoffe aus“, sagt er und seufzt: So viele Rätsel. Dabei möchte er doch nur wissen, wie das alles zusammenhängt: das Leben und die Gesundheit. Wie kann ich möglichst optimal leben? Auf dem Fensterbrett in der Küche steht ein kleiner Turm Pillen und Pulver: etwas zur Entspannung, etwas für die Konzentration, Magnesium, Vitamin D, und viele Substanzen, deren Namen wie ferne Planeten klingen. Gerade ist er auf Diät: er hat alle Nahrungsergänzungsmittel abgesetzt um zu testen, ob sich etwas ändert. Bis jetzt spürt er nichts davon.
Nach dem Frühstück (Müsli mit Hafer-Soja-Drink und einem Proteinshake) ist für Schumacher schon vieles erreicht: er hat zwischen 5 und 7 Uhr unter dem gleißenden Licht seiner smarten Küchenlampe („hemmt die Melatoninausschüttung, macht wach, sorgt für Konzentration und gute Laune“) einen Vortrag über Selbstvermessung vorbereitet, Ausdauer und Muskelaufbau trainiert und seine erste Ration Eiweiß (gut für die Muskeln) zu sich genommen. So ein aufwendiges Frühstück hat er sich früher nicht gegönnt – wozu auch? Das kostet schließlich Zeit. Mit der Optimierung seiner Zeit hat das alles angefangen, damals als er gerade in den Endzügen seiner Masterarbeit steckte und die Zeit knapp war. Damals mixte er in seinen Kaffee morgens ein Stück Butter mit dem Milchaufschäumer und trank diese Masse auf dem Weg ins Fitnessstudio. In einer Stunde war damit das Thema Frühstück und das Thema Sport in einem Aufwasch erledigt.
Er begann, diesen Plan immer mehr zu optimieren, plante exakt alle Tätigkeiten und Zeiten vor, um möglichst viel in seinem Leben unterzukriegen. Über zwei Jahre protokollierte er jede Aktivität, die mindestens 15 Minuten in Anspruch nahm und trug sie in einen Online-Kalender ein. 2014 war der Höhepunkt erreicht: unter den Block Frühstück und Sport kann man in einer Woche durchgehend eine 8-Uhr-Gerade ziehen, die nach seinem Geschmack bis ins Unendliche so weitergehen könnte. Das Leben war eigentlich ziemlich optimal damals.
Dann kam aber seine Freundin dazwischen, die auf gemeinsamen Mahlzeiten bestand, ein anderes Optimum war gefragt, das auch ein erfülltes Beziehungsleben mit einschloss, „das ist schließlich auch wichtig“ - und so dehnte sich der Sport- und Frühstücksblock wieder aus. Schumacher hat sein Leben dieser zwei protokollierten Jahre vor der Freundin in Diagramme aller Art gegossen, Balken und Torten, und eines sieht man deutlich: die Arbeit, der Sport, Vorträge und sein Engagement in der Quantified-Self-Community nehmen die größten Tortenstücke ein. Nur eines fehlt in den Diagrammen: Bücher lesen. „Das war ein Schock für mich, als mir das so deutlich wurde. Ich definiere mich als gebildeten Menschen, lesen ist mir wichtig.“ Seither steht er morgens zwischen vier und sechs Uhr auf, tritt unter das kaltweiße Licht, das per Zeitschaltuhr kurz vorher angeht, wird wach und liest zwei Stunden. Beim Sport hört er Hörbücher. „Mit Lesen und Sport sind dann die beiden Dinge, die mir wichtig sind, schon vor der Arbeit erledigt“, sagt er zufrieden.
Als sich Schumacher seiner Arbeitsstelle nähert, 9.02 Uhr, 7425 Schritte, sieht er schon von weitem seinen Kollegen Mathias Maul durch den Garten der alten Villa wandern, das Telefon am Ohr, auf und ab, Runde um Runde, in eine Diskussion vertieft. „Das macht er wegen des Schrittzählers“, sagt er grinsend. Er winkt kurz, zieht schwungvoll die Tür auf und sucht sich im Büro im ersten Stock einen freien Schreibtisch. Aus seiner Tasche packt er: den Laptop, zwei Flaschen Limettensaft („Vitamin C ist gut für den Körper, es schmeckt gut, so trinke ich mehr Wasser, das ist gesund“), ein mobiles Gerät zur Messung der Hirnströme, dessen Bügel er direkt anlegt, eine Elektrode an der Stirn. Der Vormittag verschwimmt zwischen Alpha-, Beta- und Gamma-Wellen, die auf seinem Smartphone gespeichert werden, Schumacher bearbeitet To-do-Listen, hakt Punkte ab (Limettensaft ins Büro mitbringen) und beantwortet Mails. Sein Rechner protokolliert jeden Tastendruck („vielleicht kann man daraus mal meine Stimmung berechnen oder die Konzentration“).
Am Zusammenhang zwischen Hirnwellen und Emotionen beißen sich Hirnforscher die Zähne aus. Wie erkennt man anhand der Hirnwellen, ob ein Arbeitnehmer gerade genervt oder zufrieden ist? Vielleicht kann der Arbeitsplatz der Zukunft so etwas registrieren und sich entsprechend anpassen, hoffen Forscher. Aber der Weg dahin ist noch weit, noch ist vieles unklar. Was will Schumacher nur damit machen? „Mal sehen“, sagt er schulterzuckend. Vielleicht kommt ja irgendetwas dabei heraus. Er ist wie ein eifriges Eichhörnchen, das alles sammelt. Daten können nie schaden.
Beim Mittagessen fachsimpelt Schumacher bei veganen Reispapierrollen mit seinem Kollegen Mathias Maul über die neuesten Gesundheitsstudien. Die beiden arbeiten als Berater für ein Startup, das Gesundheits-Checkups anbietet. Mauls Aufgabe ist, mit Ärzten einen möglichst effizienten Test über den gesundheitlichen Zustand eines Menschen zu entwickeln und wissenschaftlich abgesicherte Tipps für ein gesünderes Verhalten zu geben. Nach unzähligen Studien, in die er sich vertieft hat, weiß er vorallem eines: „Das Thema ist extrem vielschichtig.“ Was soll man essen? Wie hoch soll der Vitamin-D-Spiegel sein? Sind Kohlenhydrate wirklich so schlimm? Da will sich Maul nicht festlegen. „Das ist alles nicht so eindeutig bewiesen.“ Nur eines: „Der Zusammenhang zwischen Bewegung und Gesundheit ist extrem gut belegt.“ Und weil das so eindeutig ist, trägt er seit drei Jahren einen Schrittzähler, und geht seit mehr als zwei Jahren jeden Tag 10.000 Schritte, jeden einzelnen Tag, ohne eine einzige Ausnahme. „Du wirst eines Tages noch als Fitbit-Held ausgezeichnet“, scherzt Schumacher.
Aber wie viel Bewegung kann man den normalen Menschen zumuten? Was soll er ihnen empfehlen? Und ab wann demotiviert es sie eher, weil sie merken, sie schaffen es nicht? Erste Ergebnisse einer Langzeitstudie der Oldenburger Forschungsinstituts Offis und der Uni Oldenburg zeigen nämlich auch: Fitnesstracker motivieren Menschen vorallem dann, wenn das Ziel erreichbar ist. „Dann bewegen sich die Menschen mit mehr Spaß“, sagt Studienleiter Jochen Meyer, „die Geräte motivieren sie dann mehr als sechs Monate lang.“ Dann hat sich eine Gewohnheit etabliert. Wichtig sei allerdings, dass die Motivation von innen heraus komme: man muss selbst wollen. Das sei verhaltenspsychologisch gesehen schon der erste Schritt zur Veränderung. „Sie sollten also nie ein Fitbit verschenken an jemanden, der nicht darüber nachdenkt, sich zu verändern.“ Ein Hauptgrund für den Abbruch ist der, dass die Werte zu schlecht und die Anforderungen zu hoch sind. „Die Menschen müssen das Gefühl haben, nah am Ziel zu sein.“
Mathias Maul hat lange darüber nachgedacht, was das bedeutet. Schließlich ist er bei den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO gelandet, die nach einer Auswertung zahlreicher Studien einen Kompromiss gefunden hat, wie viel Bewegung gut ist: „Für einen moderaten Gesundheitsnutzen sollte man sich 150 Minuten pro Woche bei mittlerer Intensität bewegen.“ Oder 30 Minuten pro Tag mit einem Puls von mindestens 130 – das ist der grüne Kreis auf Schumachers Smartwatch. Mehr wäre besser, aber mehr könnte zu viel verlangt sein.
Nach Feierabend grübelt Schumacher über der Auswertung eines Bluttests. 52 Vitalwerte hat er testen lassen, das Blut hat er selbst eingeschickt, es brauchte nur wenige Tropfen aus einer Fingerspitze. „Das Beste steckt in Dir!“ wirbt das Unternehmen für sein „personalisiertes Healthcoaching“. Schumacher hat den größten Test gewählt, weil er wissen will, was er noch nicht weiß. Einige Werte seien kritisch, zeigt der Bildschirm, nur was bedeutet „Dihohogammalinolinsäure“? Und was ist ein „Tranferrinrezeptor“? Die meisten hat er noch nie gehört. Weitere Werte sind unter „Tendenz kritisch“ aufgelistet, darunter ein Cholesterinwert. „Vielleicht sollte ich doch weniger Butter essen“, sagt Schumacher und grinst ertappt. Am meisten freut er sich über den grünen Bereich: 36 Werte sind „optimal“. Immerhin: seit dem letzten Bluttest sind einige Werte besser geworden, Schumacher schließt daraus, welche Nahrungsmittel möglicherweise gut für ihn sind. „Endlich ist der Vitamin-D-Wert besser“, ruft er aus.
Auch seine Gene hat er schonmal analysieren lassen. Aber das ist wie mit den Hirnwellen und dem Blut: aus den Genen kann man wenig direkt auf den Menschen schließen, noch ist zu wenig über das Zusammenspiel verschiedener Mutationen, die Wirkungen anderer Faktoren und die realen Auswirkungen bekannt. Doch er setzt große Hoffnung in diese Daten: „Ich habe aus der Genanalyse erste Hinweise auf meinen Stoffwechsel bekommen“, sagt er. Doch die meisten Werte wandern erstmal auf die Festplatte, zu den Hirnwellen und den Bildern seiner Laptop-Kamera, die alle zehn Minuten eines von ihm aufnimmt. Vielleicht kann man eines Tages anhand der Mimik die Emotionen erkennen, hofft Schumacher. „Es ist so schwierig, den mentalen Zustand zu erfassen.“ Er könnte ihn händisch protokollieren, aber das ist ihm zu aufwendig. Es muss doch irgendwie automatisch gehen! Bis er das herausgefunden hat, sammelt er alles, was in Verdacht steht, ihm dabei eines Tages zu helfen. Vielleicht kann man das alles irgendwann noch brauchen, um das Leben zu optimieren. Oder herauszufinden, was nicht so optimal gelaufen ist.
Am Abend wird Florian Schumacher dann doch noch neidisch. Er hat Kollegen zum Abendessen eingeladen, um über die neuesten Gadgets und Messmethoden zu sprechen. Da sitzen über Linsen („da kriegen wir Veganer unser Eiweiß her“) mit Kokosmilch, das Ganze mit Kurkuma gewürzt („entzündungshemmend“): Mathias, der hunderte Gesundheitsstudien gelesen hat und Tanja, eine Krankenschwester, die das Startup in Sachen Gesundheit berät und die Checks begleitet, und Schumachers Freundin Eva, die auf gemeinsamen Mahlzeiten besteht. Die Runde berät über die neuesten Fitnesstracker, deren Genauigkeit, Werte und Design, Messmethoden und Konsequenzen daraus. „Mathias, sag mal ehrlich“, sagt Schumacher unvermittelt, „wie oft bist du schon Umwege gegangen, um die Zehntausend Schritte vollzukriegen?“ Der zuckt mit den Schultern. „Naja, das ist ja eine Serie, die man nicht so schnell aufgibt.“ Wenn nachmittags an seinem Handgelenk nur 8000 Schritte angezeigt werden, plant er einen Spaziergang ein, und wenn er in einem Projekt arbeitet, das nur mit dem Auto erreichbar ist, geht er öfter joggen. „Das ist wie ein Spiel“, sagt er, „aber man profitiert davon.“ Tanja schwört auf eine App, in der ihr andere Feedback geben können und die ihren Facebook-Freunden mitteilt, wie sie sich beim Laufen macht. Rennt sie schneller als andere, bekommt sie einen Applaus in ihre Kopfhörer gespielt, auch wenn jemand „gefällt mir“ klickt, applaudiert es. „Das motiviert mich extrem.“ 10.000 Schritte am Tag decken sich zwar gut mit den Gesundheitsempfehlungen – aber es ist eine Aufgabe, sich dafür zu motivieren. Die meisten Büroarbeiter schaffen sie nicht. Deshalb wandert Mathias beim Telefonieren und Tanja lässt sich von Facebook-Likes antreiben.
Die drei Kollegen reden sich ein wenig in Rage bei der Frage, welches Gerät den Puls exakt misst, was Tanjas und Florians Ruhepuls sofort auf 77 steigen lässt. Ungläubige Blicke auf die Messgeräte. „Ach jetzt wieder 59“, sagt Florian kurz darauf. „54“ kontert Tanja grinsend. Mathias betrachtet die durchgehende 56 an seinem Handgelenk still grinsend. Er dokumentiert seinen Ruhepuls seit Monaten, ohne sich mit den Werten zu beschäftigen. Als Ausdauersportler weiß er, dass er in aller Regel einen niedrigen Ruhepuls hat. „Aber wenn ich irgendwann feststelle, dass ich länger einen Ruhepuls von 60 habe, würde mich die Historie schon interessieren.“ Eigentlich sollten sich die Ärzte viel mehr für automatische Selbstvermessung interessieren, findet Florian. Schließlich sagen Langzeitmessungen viel mehr aus als eine kurze Episode beim Arzt. Aber solche Gespräche können nicht über die Krankenkasse abgerechnet werden.
Bei Schumacher schließt sich der letzte Kreis: er ist den ganzen Tag über mehr als einmal pro Stunde aufgestanden, ohne dass ihn die Uhr daran erinnern musste. Die 40 smarten Lampen in der Wohnung wechseln langsam in immer wärmere Farbtöne, die drei Freunde beginnen zu gähnen. Tanjas Armband brummt als erstes. „Oh, 21.30 Uhr, Zeit ins Bett zu gehen“, sagt sie und verabschiedet sich. Um 22 Uhr vibriert Florians Smartwatch. „Tja, ich muss dann mal“, sagt er entschuldigend und bringt Mathias zur Tür, der seine letzten Schritte für heute hinter sich bringen wird.
23 Uhr: Die Sensoren im Bett von Florian Schumacher messen einen Ruhepuls von 54. Einatmen. Ausatmen.