Die ZEIT, 17. November 2016
Der Technologiekonzern Bosch hat eine für Deutschland einzigartige und ungewöhnliche kreative Etage geschaffen – aus der Not heraus: Das Unternehmen lebt von Ideen, aber seine Forscher sind nicht frei im Kopf. Hilft das kreative Chaos?
Der Blick aus dem 12. Stock ins Grüne sieht nicht nach unserer technologischen Zukunft aus. Sanfte grüne Hügel wechseln sich ab mit Besiedlungen, zu den Füßen ein Teich, Bänke und ein Fußballfeld. Aber was ist da im Blickfeld? Schmale blaue Linien lassen manche Konturen verschwimmen. Schrift. Hier haben Leute auf das Glas der Fenster geschrieben. „Wie leben wir 2030?“ steht da. Wer weiter lesen will, hat schnell Birgit Thoben im Nacken. „Das hier sind unsere Ideen, das ist unser geschütztes Refugium. Bitte nicht aufschreiben.“ Thoben ist Innovatiosmanagerin beim Technologiekonzern Bosch, sie verantwortet diese besondere Etage namens „Plattform 12“ am neuen Forschungsstandort in Renningen bei Stuttgart. Wie leben wir in Zukunft? Ob an jenen Fensterscheiben die Antwort steht, darf hier leider nicht verraten werden. Die Plattform 12 ist für die Öffentlichkeit geschlossen. Diese Recherche ist eine Ausnahme – und sie konnte nur stattfinden gegen das hoch und heilige Versprechen, hier keine Geheimnisse und keine konkreten Ideen zu verraten.
Schließlich stehen diese Ideen hier im Mittelpunkt. Nur: wie kriegt man gute Ideen, die die Welt verändern? Hoffnung setzen die Verantwortlichen bei Bosch in eine für deutsche Unternehmen einmalige Etage: 950 Quadratmeter leistet sich das Unternehmen im 310 Millionen Euro teuren neuen Standort, um die Kreativität aus seinen 1400 forschenden Mitarbeitern zu kitzeln. Und auch die Aufmachung ist ungewöhnlich: Im 12. Stock in Renningen hängt ein Planet aus Pappmache von der Decke, über dem Satelliten schweben und auch ein paar Campingstühle. Der Planet ist an einer Stelle aufgerissen: ein Infusionsbeutel baumelt heraus. Ein paar Meter weiter steht ein mannsgroßer Astronaut aus Pappe mit der Aufschrift „intergalactiv couchdoctor“, in einer Ecke baumeln Kugeln auf Ständern mit Aufschriften wie „Bitte merken, dass ich es vergessen kann.“ Dazwischen chaotische Werkzeugkisten ohne Beschriftung und Schubladenschränke, in die jemand die Schubladen vertikal statt horizontal gesteckt hat. Das ist alles gar nicht so wie man sich ein traditionelles schwäbisches Familienunternehmen vorstellt.
„Die Werkzeugkisten haben bewusst keine Beschriftung, damit man auch mal findet, was man nicht gesucht hat“, sagt Thoben. Hier hängen viele Uhren, jede geht anders – und keine richtig. Und die Künstler, die hier jeweils drei Monate mit einem Stipendium der Akademie Schloss Solitude verbringen, schreiben Worte extra falsch, um zu zeigen, dass Fehler nicht schlimm sind. Kommt der klassische Ingenieur damit klar? Die Umgebung soll provozieren und verstören, gibt Thoben zu. Sie soll die gewohnten Bahnen durchkreuzen. „Hier soll man bewusst „out-of-the-box“ denken können“, sagt Thoben. Aber vielleicht ist schon das genau der Widerspruch. Bewusstes Ingenieursdenken führt meist zu erwartbaren Innovationen. Aber wie leben wir in Zukunft? Und welche Produkte will der Mensch der Zukunft haben? Wer diese Frage beantworten kann, ist ein gemachter Mann, oder ein gemachter Konzern. Alle stellen sich diese Fragen.
Und alle kennen die Geschichten von amerikanischen Startups, die sogenannte disruptive Technologien erfunden haben und damit die ganze Unternehmenswelt unter Druck setzen. Wie kommt man auf solche Ideen, fragen sich nun auch deutsche Manager. Wie können wir die technischen Vordenker der Zukunft werden? Mit diesen Innovationen ist eine neue Mode ist aus den USA zu uns herübergeschwappt, eine Art zu denken, die eher typisch für Startups ist: Design Thinking soll helfen, nicht erst an die eigenen Produkte zu denken, nicht erst an die Lösung, sondern an Bedürfnisse. Es bedeutet auch, Ideen nicht gleich zu bewerten, sondern sie aus dem Kopf zu kriegen in Form von Bildern oder Dingen zum Anfassen. Die Frage dahinter: wie können wir alle Hemmungen ablegen? Wie können wir so frisch denken wie ein amerikanisches Startup, so als hätten wir nichts zu verlieren? Oder in den Worten der Innovationsmanagerin Thoben: „Wir müssen scheitern lernen. Wir brauchen 100 Ideen, damit eine sich durchsetzt.“
Was einleuchtend klingt, scheitert an tief verankerten Traditionen, wie das Beispiel Bosch zeigt. Während seine Kollegen in der neuen Plattform an die Fenster malen, erklärt Lorenz Hagenmeyer, Director User Experience Strategy bei Bosch, die Herausforderung beim Stuttgarter World Usability Day so: „Wir brauchen Patente, um uns weiter zu entwickeln, aber das ist ganz schön schwierig.“ Der Erfindergeist bei Bosch stoße an Grenzen, die junge innovative Startups locker meistern: „Angenommen, wir hätten den Taximarkt neu aufrollen wollen, was hätten wir getan?“ Auf seiner Folie prangt das Uber-Logo, man ahnt schon, worauf es hinausläuft: „Wir hätten das beste, schönste, bequemste Taxi gebaut.“ Aber wäre der Automobilzulieferer in der Lage gewesen, einen Taxiservice ganz ohne Taxi zu denken, so wie Uber? Mobilität ohne Auto?
Das ist wohl das Kernproblem vieler deutscher Großkonzerne: das Denken beginnt bei den eigenen Produkten. Einige Innovationen aus den USA zeigen nun aber, dass genau das Gegenteil zu den viel zitierten disruptiven Technologien führt: das Produkt zuletzt zu denken. „Out of the box“ denken, nennt auch Hagenmeyer das – und das ist für Unternehmen wie Bosch neu. Mutig auch mal ins Unreine zu denken ist ein Element des Design Thinking, dessen Vorreiter der deutsche Softwareriese SAP ist. Allerdings in seiner kalifornischer Zentrale, wo nicht nur 600 Designer sondern auch 3000 Design-Thinking-Coaches arbeiten. Wichtige Elemente des neuen Denkens sind die Herangehensweise, erst das Bedürfnis zu verstehen, Zeit in eine Art Feldforschung zu investieren, und dann erst an das Produkt zu denken. Und schnelle Prototypen zu produzieren. „Späte Fehler sind teuer“, sagt Claudia Nicolai, akademische Direktorin der School of Design Thinking des Potsdamer Hasso-Plattner-Instituts. Deutsche Großkonzerne neigen ihrer Beobachtung nach dazu, erfolglose Ideen durchzudrücken, weil schon viel Arbeit in ihnen steckt. „Wir haben keine Fehlerkultur in Deutschland“, sagt sie. Während Gründer im Silicon Valley von ihrem Scheitern erzählen, hört man in Deutschland nur Erfolgsgeschichten.
Wie erfolgreich solche Konzepte wie die Plattform 12 sind, lässt sich schwer messen: Studien ihres Instituts hätten ergeben, dass die Motivation der Mitarbeiter dadurch steige. Aber in Zahlen lasse sich das kaum fassen: „Kulturveränderungen sind weiche Faktoren.“ Aber umso wichtiger. Und auch die Plattform-Verantwortliche Birgit Thoben verweigert sich der Messbarkeit. Wie viele Ideen hier entstanden sind, verrät sie niemandem. „Ich will keinen Druck aufbauen, dass man nur hierher kommen darf, wenn man auch Ideen hat.“ Auch das Management habe sich damit abgefunden, von ihr vorerst keine Zahlen zu bekommen. „Das setzt Vertrauen in die Mitarbeiter voraus“, sagt Thoben, „wer kreativ sein will, braucht Freiräume.“ Die Mitarbeiter der Forschungsabteilung dürfen die Plattform jederzeit nutzen ohne sich zu rechtfertigen – zumindest in der Theorie. Wie sehr sie das manchmal verteidigen muss, lassen Thobens Äußerungen allerdings auch erahnen. „Man darf nicht vergessen, wo wir herkommen: 130 Jahre Tradition, Massenproduktion und keine Fehler – das steckt in der DNA.“
Vielleicht helfen junge, externe Mitarbeiter, diese Gene des schwäbischen Familienunternehmens mit anderen zu mischen. Die Doktorandin Larissa Kutscha kommt ganz gut damit klar, Ideen erstmal auszuspucken ohne sie gleich in Frage zu stellen: „Wir müssen lernen, entgegen des deutschen Ingenieurdenkens einfach mal was Unfertiges in den Raum zu stellen.“ Kutscha hat zwischenzeitlich die gesamte Plattform in Beschlag genommen, als sie ihr Experiment aus der Kunststofftechnik aufbaute. Immer wenn Kollegen über die Kabel und Verbindungen stiegen, ergaben sich Gelegenheiten zum Austausch. „Man fragt sich: was soll das hier?“, sagt sie. Man ärgert sich vielleicht sogar. Immer wieder kommen Mitarbeiter und sagen „Was soll dieser Schnickschnack? Das ist doch Geldverschwendung.“ Aber genau dann passiert etwas im Kopf, sagt Kutscha: „Man fängt an herumzuspielen, etwas neu zu ordnen – und plötzlich hat man eine Idee.“ Die erste jener 100 Ideen, von denen eine der disruptive Glücksbringer sein könnte.
Thomas Drescher erinnert sich noch gut daran, wie Birgit Thoben vor ein paar Jahren mit ihrer Suche nach den 100 Ideen bei ihm gelandet ist - und wie seltsam er das fand. „Wieso genau 100?“ Er macht keinen Hehl daraus, dass Bosch für ihn eine ganz schön schräge Welt ist, auch wenn der Konzern ihn und sein Unternehmen „Wimmelforschung“ beauftragt hat, die Plattform 12 zu entwickeln. „Die hatten sich das mit den 100 Ideen irgendwie ausgerechnet“, sagt er schulterzuckend. Gerechnet! Und das ist aus seiner Sicht schon der erste Fehler: Kreativität aus einer rein ökonomischen Perspektive zu betrachten.
Die Innovationsabteilung hatte ihn und seine Partnerin Maren Geers eingeladen, um über ein Konzept für einen Kreativraum zu diskutieren. „Aber deren Ideen waren viel zu steril, viel zu zonal: Hier reden, da Kaffee trinken, da ausprobieren. So bosch-like halt.“ Vergesst es, sagte er schließlich, das Denken schien zu weit voneinander entfernt. Die Reaktion kam auch für Drescher überraschend: „Mach es besser“. Man könnte meinen, Drescher wollte provozieren, als er einige Wochen später sein Konzept der Führungsriege präsentierte: der Astronaut als „intergalaktischer Couchdoktor“, die falsch gehenden Uhren, der Planet mit der Infusionsflasche. Zur Präsentation verteilten Stewardessen Bordkarten an die Boschführung um klar zu machen: „Sie betreten hier eine andere Welt.“ Drescher fürchtete eine Absage. Aber stattdessen kam der Auftrag. „Wir haben deren Konformität mit unserer Poesie unterwandert und denen ein schwarzes Loch verkauft.“
Das zugehörige Alien sitzt an diesem Tag klein und scheinbar schüchtern in einer Ecke und beobachtet die Boschler mit großen Augen. Kinga Tóth trägt ihre Haare hochgesteckt, einzelne Zöpfe ragen wie Antennen in die Luft. „Ich bin natürlich total komisch für die anderen hier“, sagt sie. Die ungarische Künstlerin ist zwischen den Ingenieuren so offensichtlich ein fremdes Wesen, dass man intuitiv das Schild „Bitte nicht füttern“ sucht. Sie stellt allein mit ihrer Art scheinbar unverrückbare Überzeugungen infrage. „Ich arbeite gegen Grenzen an“, sagt Tóth, „die vertragen sich nicht mit Kreativität.“ Sie hat in den vergangenen Wochen eine Art ethnologische Forschung über das seltsame Wesen des Bosch-Forschers betrieben und daraus ein Klangkunstwerk geschaffen. „Mögt ihr Kunstlicht?“, hat sie sie gefragt, „und Kunsttemperatur? Könnt ihr raus, wenn ihr wollt?“ All das, was für Unternehmen charakteristisch ist, behindert aus ihrer Sicht die Kreativität. „Diese Menschen hier arbeiten für die Zukunft, für die Utopie, für ein besseres Leben. Da müssen solche Fragen gestellt werden“, findet sie. Sie sieht sich als Indikator: Künstler spürten schließlich, was die Kreativität hindert. „Wir sind die Stimmen, die vergessen wurden und die man hören muss, wenn man etwas neues entwickeln will“, sagt sie beschwörend.
Allerdings dürfe man sich nicht nur bei den Künstlern bedienen, warnt Thomas Drescher. „Kunst ist keine ökonomische Ressource.“ Im Unterschied zu anderen Unternehmen, die Künstler für sich arbeiten lassen, bearbeiteten die Künstler auf der Plattform 12 ihre eigenen Projekte. Design Thinking betrachte Kunst extrem klischeehaft, schimpft er: „Dabei sind Künstler Menschen, die etwas aushalten. Wir müssen es auch aushalten, wenn wir keine Ideen haben.“ Ideen auf Bestellung gibt es aus seiner Sicht nicht. Schon gar keine 100. Das können Ingenieure von Künstlern lernen. „Der Druck aus dem Silicon Valley ist enorm.“ Manche deutsche Unternehmen versuchten diese Art zu denken nun zu imitieren. „Dabei wird einem dort eine Freiheit vorgegaukelt, die nicht echt ist.“ Die Plattform 12 hat deshalb aus seiner Sicht wenig mit Design Thinking gemein, sie eröffne mehr einen Freiraum.
Ganz unbemerkt von allen Beteiligten geschieht am späten Nachmittag schleicht sich am Nachmittag reinrassiges Design Thinking in Form eines Praktikanten in die Plattform. Ein junger Mann huscht in die Plattform 12 und schiebt einen USB-Stick in den Computer am 3-D-Drucker. Was er hier macht? Er wirkt überrascht, dass jemand das wirklich wissen will. „Nichts besonderes“, sagt er bescheiden, „ich drucke nur eine Idee aus.“ Eine Halterung für Sensoren für ein technisches Gerät. Ein Detail, das bisher in seiner Abteilung ungelöst erschien. Hier in der Plattform muss er keinen Antrag dafür stellen und nicht lange warten. „Nur schnell“, schiebt er hinterher und huscht wieder davon.
„Rapid prototyping“ heißt das Zauberwort für dieses „nur schnell“, das natürlich auch aus den USA kommt. Die Idee dahinter ist nicht neu: Hirnforscher sagen schon lange, dass wir Dinge dann am besten begreifen, wenn wir sie tatsächlich anfassen können. Ein schneller Prototyp, im Zweifel aus Papier, Pappe oder Knete, zeigt die Stärken einer Idee – und auch ihre Schwächen. „Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten, wenn man wirklich etwas begreifen will“, sagt Doktorandin Kutscha. Sie sitzt jetzt neben Matthias Kuntz, seit zehn Jahren Forschungsingenieur bei Bosch, auf den Stufen eines rollbaren kleinen Amphitheaters in der Plattform. Beide eint das Interesse an Kreativitätstechniken. Kuntz hat schon öfter beobachtet, wie Manager kreativ werden, sobald die Umgebung stimmt. Einmal sei eine hohes Tier zu einem Workshop in ein Künstleratelier gekommen. Die Staffeleien, die Unordnung, das kreative Chaos: sofort habe er das Jackett abgelegt und die Ärmel hochgekrempelt. „Er hat die Rolle gewechselt: nicht mehr Chef, sondern verspielt-kreativer Tüftler. Sobald der Ingenieur statt per Powerpoint mit der Hand schaffen darf, bewirkt das Wunder.“
Wie leben wir in Zukunft? Die Schrift am Fenster ist an einigen Stellen verwischt und durchgestrichen. Hier ziert ein Smiley die Scheibe, an einer anderen Stelle steht „Bitte verstecken und mir in zwei Wochen wiedergeben.“ Ein Mann in Anzug und sein Kollege in Kapuzenshirt und Turnschuhen fotografieren ihr Brainstorming von einer Tafel ab. In einer Ecke sitzt eine Arbeitsgruppe. Der Leiter hat seinen Laptop auf eine der Werkbänke gestellt. Auf dem Bildschirm ist eine Tabelle. Sie versuchen, Kriterien in Zahlen zu packen. Ist der Kunde der Zukunft bereit, für mehr Nachhaltigkeit auch mehr zu bezahlen? Die Debatte geht hin und her. „Unsere ganzen Ideen passen doch nicht in die Tabelle“, klagt eine Mitarbeiterin. „Was jetzt“, ruft ihr Kollege ungeduldig, „soll ich jetzt eine 1oder eine 3 eintragen für Nachhaltigkeit?“ So ganz kann man die DNA einfach nicht ablegen.