Spektrum.de/Spektrum der Wissenschaft, 6. September 2016 - pdf
Manche Forscher sind besorgt, dass die Nutzung von GPS & Co unser Gehirn verändert und wir unsere Orientierungsfähigkeit verlieren. Was ist dran?
Wer sich verfährt oder verläuft, muss nicht nur Umwege in Kauf nehmen. Im Extremfall kann er daran sterben. Das kommt in manchen Gegenden in der Tat immer häufiger vor, so dass diese Art zu sterben nun einen eigenen Namen bekommen hat: „Death by GPS“ nennen es die Ranger des Nationalparks Death Valley. Wer hier die Orientierung verliert und länger nicht gefunden wird, kann wegen der großen Hitze schnell dehydrieren. Und das scheint im Zeitalter der Navigationsgeräte häufiger vorzukommen. Aus den USA erreichen uns immer wieder besonders krasse Geschichten von Menschen, die ihrem Navi gefolgt sind, auch wenn es Richtungen oder Straßen vorgeschlagen hat, die ganz offensichtlich falsch waren und sich damit in ersnthafte Gefahr begeben haben. Aber auch in Europa hört man immer wieder Geschichten von Menschen, die sehenden Auges beispielsweise in einen See fahren, weil ihr Navi behauptet, es handle sich um eine Straße oder andere, die alle Warnschilder auf unfertigen Brücken ignorieren und ins Meer stürzen – oder die schlicht zehn Stunden in die falsche Richtung fahren, bevor sie Verdacht schöpfen.
Machen Navis dumm? Die Frage mag provokativ sein, aber in der Tat mahnen Psychologen und Hirnforscher immer häufiger an, dass unser Gehirn auch Dinge verlernen kann (ohne dass wir dafür gleich in Gräben fahren müssen). Selbst der einstige Präsident des Royal Institutes of Navigation, das die Navigation technisch voranbringen will, Roger Mc Kinley warnte kürzlich in nature (http://www.nature.com/news/technology-use-or-lose-our-navigation-skills-1.19632) „Automatische Wegfindung untergräbt unsere natürlichen Fähigkeiten.“ Aber wie natürlich ist unser Orientierungssinn? Verlieren wir tatsächlich evolutionäre Fähigkeiten, weil wir Navis benutzen?
Wer sich auf die Suche nach der Antwort begibt, erhält vorallem Hinweise auf die andere Richtung: durch Übung bauen sich Fähigkeiten auf. Unser Gehirn ist plastisch: lernt und übt jemand eine neue Fähigkeit, verändert sich dessen Gehirn. Das wurde in vielen Zusammenhängen nachgewiesen, sei es beim Lernen eines Instrumentes oder Jonglieren. Und auch der berühmte Smartphone-Daumen ist so ein Effekt: „Die Repräsentation des Daumens im Gehirn von Kindern und Jugendlichen ist seit der Einführung des Handys fast doppelt so groß“, sagt der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther. „Wenn man etwas lernt, wird das strukturell im Gehirn verankert.“ Deshalb sei die andere Richtung ebenso plausibel: wer Fähigkeiten nicht nutzt, verlernt sie wieder – das Gehirn baut entsprechende Kapazitäten ab.
Das bekannteste Beispiel im Bereich der Orientierung ist die Londoner Taxifahrerstudie aus dem Jahr 2008: Hirnforscher des University College London untersuchten diese im Kernspintomograhen und fanden heraus, dass ein bestimmter Hirnbereich besonders aktiv war, wenn die Probanden in einer Simulation durch die Straßen Londons navigierten. Bei den erfahrenen Taxifahrern war diese Region, der hintere Hippocampus, zudem deutlich größer als bei Neulingen. In Folgestudien begleiteten die Forscher angehende Taxifahrer vor und nach der Prüfung zum Taxischein, um die Kausalitäten zu klären: werden Menschen mit großem hinteren Hippocampus Taxifahrer, oder lässt das Taxifahren dieses Struktur wachsen? In der Tat nahmen deren Graue Zellen im Hippocmapus mit der Ausbildung im Vergleich zur Kontrollgruppe zu – allerdings nur bei jenen, die am Ende die Prüfung bestanden. Im Gegenzug war aber der anteriore Abschnitt des Hippocampus bei manchen von ihnen verkleinert, was laut Studienleiterin Eleanor Maguire zu Nachteilen bei der Verarbeitung neuer Eindrücke führen kann.
Für Hüther ist klar: „Wenn man nun allen Londoner Taxifahrern Navis gibt, schrumpft die Hirnregion wieder.“ Dafür gibt es allerdings keine Kontrollstudie. „Es gibt keinen Beleg, aber es erscheint plausibel“, sagt auch der Mannheimer Bildungspsychologe Stefan Münzer. Aber laufen wir tatsächlich Gefahr, durch die Navi-Nutzung eine angeborene Fähigkeit zu verlieren? Immer wieder wird als Beleg dafür, dass die Fähigkeit zur Orientierung in den Genen festgelegt ist angeführt, dass sich Männer und Frauen unterschiedlich orientieren, was möglicherweise auf einen angeborenen Unterschied hindeuten könnte.
Münzer glaubt nicht daran, dass Orientierung angeboren ist. „Wenn man ganz genau hinschaut, sieht man, dass sich Frauen und Männer zuverlässig nur in einem ganz speziellen Bereich unterscheiden“, sagt er: bei der räumlichen Rotation. Es scheint so, als seien Männer besser darin, sich beispielsweise vorzustellen, wie ein Würfel aussieht, wenn er gedreht wird. Diese Fähigkeit braucht man auch, wenn man eine Karte liest: man muss sie im Kopf so drehen, dass man die eigene Bewegungsrichtung auf der Karte verorten kann. Damit könnte man sich Befunde teilweise erklären, die zeigen, dass Frauen bisweilen weniger erfolgreich sind, ihren Weg mithilfe einer Karte zu finden und stattdessen alternative Strategien verfolgen, indem sie sich beispielsweise den Weg genau merken und genau so zurückgehen.
Entsprechende Unterschiede in Orientierungsstrategien zeigte auch eine Studie von Münzer mit Kollegen: Seine Probanden nahmen 2012 an einer geführten Tour auf dem Unicampus im Saarland teil und sollten anschießend zeigen, in welcher Richtung sich die Bibliothek von der Mensa aus befand. Hier konnten Männer die Richtung besser zeigen. Später sollten die Probanden aus dem Gedächtnis heraus eine Karte des Campus zeichnen. Darin waren Männer und Frauen gleich gut. Die Frauen hatten also eigentlich das nötige Wissen, um auch die Richtung zu zeigen, konnten aber nicht darauf zugreifen – vermutlich deshalb, weil sie ihre Karte nicht auf der Grundlage eines gedachten Überblicks über den Campus zeichneten, sondern den Weg über die zurückgelegte Route rekonstruierten. Männer legten sich eher eine kognitive Karte zurecht und konnten von daher die Richtung eher bestimmen.
Auch wenn die geschlechterspezifischen Effekte dieser Studie relativ klein waren, zeigt sie, dass es unterschiedliche Strategien bei der Orientierung gibt. Einen Weg kann man sich auch einfach so merken: „Am Bäcker muss ich links, danach bis zur Schule und dort rechts“. Dabei memoriert man lediglich die Reihenfolge von Landmarken und damit verknüpfte Richtungsänderungen. „Dieses Routenwissen versagt aber, sobald Sie eine Abkürzung nehmen wollen oder einen Umweg gehen müssen“, sagt Julia Frankenstein, Psychologin an der TU Darmstadt. Dafür bräuchte man eine räumliche Repräsentation, welche die räumliche Lage der Landmarken zueinander abbildet: Die kognitive Karte. Die dafür erforderlichen Winkel und Distanzen spielen im Routenwissen keine Rolle: Um am Bäcker links abzubiegen, muss ich nicht wissen, wie weit der Bäcker entfernt ist. Aber die kognitive Karte stimmt nicht eins zu eins mit einer realen Karte überein, sagt Julia Frankenstein. Menschen sind nicht perfekt: „Die Karte im Kopf beinhaltet zwar die räumlichen Lage von Orten zueinander, sie ist aber nicht unbedingt ein Stadtplan: Sie ist meist unvollständig, und kann verzerrt sein.“
Räumliches Wissen bedeutet nicht nur, eine Landkarte im Kopf bilden zu können, sondern das Wissen darum, wie Gegenstände zueinander stehen. Die Sorge mancher Forscher: wenn diese Fähigkeit des räumlichen Denkens nicht trainiert wird, geht sie gänzlich verloren. Das Wort Orientierungssinn an sich führt dabei allerdings in die Irre, findet Münzer: „Man HAT ihn nicht, es ist eine Frage des Lernens.“ Es sei kein angeborener Sinn wie andere Sinne. Julia Frankenstein vermutet, dass zumindest ein Teil der Orientierung angeboren ist, da diese Fähigkeit auch für sehr viele Tiere überlebensnotwendig ist. Menschen können verschiedene Strategien zur Orientierung nutzen und diese auch untereinander kommunizieren, beispielsweise mit Karten, touristischen Informationstafeln, Hinweisschildern oder Navigationssystemen. „Während manche Menschen über sehr exakte kognitive Karten verfügen, und sogar Himmelsrichtungen integrieren, bauen wieder andere scheinbar überhaupt keine kognitiven Karten auf“, so Frankenstein. Orientierung könne man lernen und verbessern, ähnlich wie Musikalität, die teilweise auf Talent und teilweise auf Übung beruht.
Und auch die Technik kann helfen, Orientierung zu üben. Wer beispielsweise Geocachen geht, trainiert ganz nebenbei seine Orientierung, und auch, wer sich die Googlemaps-Karte anschaut, bevor er sich vom Navi leiten lässt, bekommt ein Ahnung von Richtungen und lernt, sich darin zu verorten. Münzer erforscht derzeit, wie die Anzeige von Navis gestaltet sein müsste, um die räumliche Orientierung zu trainieren: weniger mit „jetzt rechts abbiegen“-Pfeilen, als mit einer Karte, auf der mehr zu sehen ist, als die nächsten Kreuzungen. Probanden beispielsweise zeichneten in Karten auch "globale" Landmarken ein, die mit dem konkreten Weg nichts zu tun hatten, wie weithin sichtbare Hochhäuser, bedeutsame Gebäude wie ein Schloss oder den Hauptbahnhof. Diese dienen der Orientierung, nicht dem unmittelbaren Abbiegen. „Für die Entwickler von Navigationsgeräten ist noch schwierig zu beurteilen, welche Informationen für die menschliche Orientierung wichtig sind.“ Nicht zuletzt trainieren bestimmte Computerspiele räumliches Denken: „Wer 3-D-Strukturen in einer 2-D-Ansicht verstehen will, braucht die räumliche Transformationen, insbesondere die Perspektiventransformation“, sagt Münzer.
Und können die Folgen nicht auch positiv sein? Wenn die Londoner Taxifahrer aufgrund ihres vergrößerten hinteren Hippocampus einen kleineren vorderen Hippocampus haben und schlechter neue Ereignisse verarbeiten könnte, könnte das doch auch umgekehrt gelten: wir nutzen die freigewordenen Kapazitäten anders und bauen andere Fähigkeiten aus. „Die Ressourcen können anders genutzt werden“, ist Frankenstein überzeugt. Unser Arbeitsgedächtnis hat eine begrenzte Kapazität - und wenn man sich nicht mehr auf die Orientierung konzentrieren muss, kann man sich besser auf den hektischen Verkehr konzentrieren, oder mit dem Beifahrer unterhalten.
Dennoch empfiehlt sie, das Navi ganz bewusst als Werkzeug nur dann zu nutzen, wenn man wirklich Hilfe braucht: „Man sollte es nicht aus Bequemlichkeit jederzeit automatisch einschalten und blind losfahren.“ Frankenstein rät zusätzlich zu einem Blick auf die Karte und das eigene Planen der Route. Denn wer auch ohne Navi weiß, wo er sich befindet, ist nicht hilflos, wenn das Navi ausfällt - und landet auch nicht in Porto statt in Bordeaux. Denn auch das zeigen Studien, selbst bevor es Navis gab: Wer sich - beispielsweise als Mitfahrer - nicht aktiv mit der Route beschäftigt, merkt sich diese schlechter.
„Menschen sollen sich nicht blind entscheiden, sondern wissen, was sie tun“, findet auch Neurobiologe Hüther, „wenn man sich bewusst dafür entscheidet, seine Orientierung kaputt zu machen, ist das etwas anderes, als wenn man so tut, als hätte das keine Folgen.“ Ganz so schwarz sehen es Münzer und Frankenstein nicht. „Wir verbringen schließlich nicht 90 Prozent unserer Zeit mit Navi im Auto“, sagt Münzer, und auch Frankenstein betont, dass wir uns in vielen alltäglichen Situationen orientieren: „ Wir haben in unserer Umwelt viele Aufgaben, bei denen wir diese Fertigkeit trainieren, beispielsweise, wenn wir nachts im Dunkeln das Badezimmer aufsuchen, oder uns merken, wo wir unseren Schlüssel abgelegt haben.“ Beim kulturpessimistischen Abgesang will Frankenstein jedenfalls differenzieren: „Orientierung ist eine evolutionär recht alte Fähigkeit, Navis gibt es gerade mal seit einer Generation: So schnell verändert sich die evolutionäre Basis nicht.“ Aber auch wenn wir die Fähigkeit zur Orientierung nicht so schnell verlieren: Die eingeübten Fertigkeiten und Strategien sowie das geographische Wissen könnten durchaus leiden.
Das räumliche Denken ist darüber hinaus nicht nur wichtig, um nicht im Death Valley verloren zu gehen. „Auch wenn es beispielsweise darum geht, Informationen mittels Karten zu visualisieren, brauchen wir räumliche Orientierung,“ sagt Münzer. Was uns heute ganz normal vorkommt, gab es im 19. Jahrhundert noch nicht, als in London eine große Cholera-Epidemie ausbrach. Während die Stadt-Verantwortlichen jeden Tag über neuen Listen mit Todesfällen brüteten und versuchten, die Ursache zu finden, kam irgendwann jemand auf die Idee, die Fälle in einer Karte einzuzeichnen. „Für jemand, der nicht räumlich denkt, ist das nicht naheliegend“, sagt Münzer. Es führte prompt zur Lösung: eine Häufung rund um die Wasserpumpen machte klar, wie sich die Krankheit ausbreitet.
Und auch viel später starben noch Menschen, weil andere nicht räumlich dachten – zumindest wenn man dem amerikanischen Informationsdesigner Edward Tufte glaubt: vor dem Start der Challenger-Raumfähre, die 1986 explodierte, hatten Ingenieure immer wieder gewarnt, weil sie einen Zusammenhang entdeckt hatten zwischen niedrigen Temperaturen und austretendem Treibstoff an bestimmten Dichtungen. Sie zeichneten Raketen mit umständlichen Legenden, die den Effekt versuchten zu verorten. Die Nasa-Verantwortlichen verstanden den Zusammenhang nicht. Hätten die Ingenieure einfach die Temperatur auf einer X-Achse und die Gefahr des Austritts auf einer Y-Achse aufgetragen, wäre der Zusammenhang deutlicher gewesen, so Tufte. „Auch das ist eine räumliche Repräsentation“, erklärt Münzer.
Werden wir also alle eines Tages sterben, weil wir die Fähigkeit zum räumlichen Denken verloren haben und Zusammenhänge nicht mehr visualisieren können? Vermutlich nicht: „Die Literatur zu kognitivem Transfer ist bitter“, sagt Münzer, „Transfer findet nur sehr begrenzt statt.“ Wir können also aufatmen: Mit der Nutzung von Navis verlieren wir vermutlich nur jenen Teil der räumlichen Orientierung, den uns die Technik abnimmt. Wer Grafiken lesen können möchte, muss das unabhängig davon trainieren. Unsere fehlende Orientierungsfähigkeit wird uns nur ganz konkret dort schaden, wo wir sie vernachlässigen: in den meisten Fällen hat das Umwege zur Folge, in den USA vielleicht eine Fahrt in sehr unwirtliche Gegenden, in denen man verdursten kann. Die Gefahr ist hierzulande nicht ganz so groß. Wer sich von seinem Navi aber über eine unfertige Brücke lotsen lässt, hat mutmaßlich mehr vernachlässigt als das Orientierungsvermögen.