Neue Züricher Zeitung, 13. August 2015
Ein junger Informatiker aus Zürich begründet eine Bewegung für mehr soziale Kontakte im echten Leben – vermittelt durch Computer. Zuerst wird er von seinen Kollegen belächelt. Jetzt holt der Mainstream auf.
Männer in Hemd und Krawatte ziehen Grimassen, eine stolze Doktorandin hält umringt von Freunden ihre Dissertation in die Kamera, eine Mutter und ihre beiden kleinen Töchter springen in die Höhe: diese Szenen hat die „Moment Machine“ festgehalten, ein öffentliches Display an der Universität Lugano mit eingebauter Kamera. Wer immer möchte, kann sich hier allein oder mit Freunden fotografieren lassen, das Bild erscheint auf dem Display und auf Facebook. Allein lässt sich hier kaum einer abbilden: es sind fast nur Gruppen von Menschen, die sichtlich Spaß haben.
Mittendrin steht manchmal Nemanja Memarovic, stolz auf sein bislang erfolgreichstes Projekt, und freut sich, wie die Technologie Menschen zusammenbringt. Der 32-jährige Informatiker der Universität Zürich hat die „Moment Machine“ mit Kollegen in Lugano entwickelt. Im Gegensatz zu all den sozialen Netzwerken, die Momente im Leben ihrer Nutzer nur abbilden, kreiert Memarovics Maschine solche: Menschen treffen sich und tauschen sich aus. Wie wertvoll solche Momente sind, das weiß Memarovic, seit sie ihm einst entglitten sind.
Im Oktober 2009 sitzt der Informatik-Student in den USA vor seinem Computer und weiß nicht weiter. Ihm scheint, als sei Facebook explodiert. Das zuvor so überschaubare Studentennetzwerk wird immer größer, undurchdringlicher. Er verliert sich darin. Wer sind seine Freunde, wer nur Bekannte? Von wem möchte er überhaupt wissen, was er so treibt? Er verabredet sich kaum noch mit Freunden. Memarovic fühlt sich immer kleiner in diesem unüberschaubaren Online-Kosmos. Kurz darauf fällt ihm auf, wie er andauernd sein Handy entsperrt, ohne es zu nutzen. Wie ein unkontrollierbarer Reflex. Das alles wird ihm unheimlich. Der Student hat eine bohrende Frage: Tut uns das Netz gut?
Aber so einfach ist die Frage nicht zu beantworten. Memarovic liest psychologische Studien, laut derer wir vor dem Rechner vereinsamen. Aber stimmt das? Er spürt jedenfalls, dass ihm soziale Kontakte fehlen, reale Begegnungen statt Likes, Umarmungen statt Smilies. „So langsam reifte die Erkenntnis, dass wir vielleicht ein bisschen zu viel online sind“, erinnert er sich heute. Anfangs wird er von seinen Kollegen wenig ernst genommen. Ein Informatiker kämpft gegen das Internet? Wie albern. „Wenn Menschen das Wort „offline“ hören, denken sie oft, dass ich das Internet abschalten will“, sagt Memarovic und lacht. Aber er ist ja nicht weltfremd. Und er weiß, wie sehr das Internet und die Mobiltechnologie in unser Leben gehören. Dennoch findet er, dass diese Technologien uns manchmal zu sehr auseinander bringen. „Es wird immer wichtiger, die menschliche Interaktion in unsere reale Welt zurück zu bringen“, sagt er.
2012 will er es wissen: er organisiert einen Workshop auf einer weltweiten Informatik-Konferenz zur Frage, wie Computer soziale Interaktionen im realen Leben vermitteln können. Das gefürchtete „Offline“-Wort steht sogar im Titel. Wird überhaupt jemand teilnehmen? Die Kollegen strömen in seinen Workshop, der Raum ist beinahe zu klein. Er scheint einen Nerv getroffen zu haben. Im Jahr darauf gibt es bereits zwei solcher Workshops. Seit 2014 ist keine der großen Informatik-Konferenzen ohne das Thema denkbar.
Während heute auch die Öffentlichkeit das Thema entdeckt, während große Zeitungen mit Artikeln aufmachen, die - wie Memarovic einst - fragen, ob wir zu viel online sind, während die ersten Manager viel Geld bezahlen, um in Hotels ohne WLAN nicht erreichbar zu sein – währenddessen lösen die Informatiker das Problem auf ihre Weise: „Die Technologie muss uns dabei helfen“, sagt Geraldine Fitzpatrick, Professorin für Mensch-Maschine-Interaktion an der TU Wien. Sie ist eine Art Mentorin für Memarovic geworden. Gemeinsam haben sie einst den ersten Workshop organisiert. Sie ist mehr als 20 Jahre älter als Memarovic und sieht das ganze Thema unaufgeregt: Das Gefühl der Einsamkeit in einer Masse an Facebook-Freunden hält sie für keine universelle Erfahrung. „Twitter und Facebook ermöglichen auch neue soziale Kontakte, die wir ohne die Plattformen nicht knüpfen könnten“, sagt sie. Aber wenn sie Menschen im Cafe sieht, die auf ihr Smartphone schauen, anstatt sich zu unterhalten, denkt sie sich: das sollte sich ändern. „Und wir können das unterstützen“, sagt sie, das sei ihre Verantwortung als Informatikerin.
Die Forscher entwickeln Apps und Technologien, die Menschen zueinander bringen. „Tickets to Talk“, nennt Memarovic seine Aktionen, wenn er beispielsweise Tweets von Passanten auf einem öffentlichen Display zusammenführt und sich im Publikum Gespräche zwischen Wildfremden ergeben. Apps, die spontane Begegnungen im Zug ermöglichen, Online-Spiele, die nur gewinnt, wer sich real zusammen tut, Programme, mit denen Handynutzer ganze Häuser-Fassaden gestalten und darüber diskutieren können: Die Informatiker probieren vieles aus. „Wir sind uns einig“, sagt Fitzpatrick: „Die Gefahr ist nicht die Technologie, sondern die Art, wie wir sie nutzen.“
Können wir Smartphones nicht anders nutzen als als Kommunikationskiller? Das diskutiert Memarovic seit einigen Jahren in Workshops mit Kollegen. Auf einer der jüngsten Konferenzen bemängelten junge finnische Forscher, dass die Gesellschaft das Potential von Smartphones, Menschen zusammen zu bringen, viel zu wenig nutze. Dank GPS und Informationen von sozialen Netzwerken könnten die Geräte neue Bekanntschaften unter Gleichgesinnten vermitteln, die sich gerade in räumlicher Nähe zueinander befinden, plant Jarno Ojala von der Tampere University of Technology. Gerlinde Fitzpatrick träumt von einer solchen App für wissenschaftliche Konferenzen: Wenn sich Smartphones über die Interessen ihrer Besitzer gegenseitig informierten und diesen ein Signal geben, wenn zwei Gleichgesinnte aneinander vorüber gehen, hätte sie Memarovic womöglich schon früher kennen gelernt, sagt sie: „So verpasst man keine spannenden Kontakte, nur weil man sich noch nicht kennt.“
Drei Wissenschaftler aus Lausanne stellten im Workshop ihre App „SpeakUp“ vor, die spontane Diskussionen nach Vorlesungen ermöglicht: Alle im Umkreis von 200 Metern können damit direkt auf dem Start-Bildschirm ihres Smartphones Fragen stellen und andere Fragen bewerten. Im Gegensatz zu Debatten in Sozialen Netzwerken bleibe das „hier und jetzt“ zwischenmenschlicher Interaktion erhalten, so Dennis Gillet von der Ecole polytechnique fédérale. Und der schwedische Forscher James Wen entwickelte eine App, die Alleinreisende zusammenbringt, die nicht immer nur Selfies machen wollen: Das Programm schlägt Menschen in der Nähe vor, die ebenfalls auf der Suche nach jemandem sind, der sie fotografiert. Die Technologie wird einmal mehr zum „Eisbrecher“ zwischen fremden Menschen.
Dass Memarovic auf dem richtigen Weg ist, zeigen die Reaktionen seiner Probanden: Die „Moment Machine“ führe Menschen zusammen, sagen seine Interviewpartner, sie schaffe Bewusstsein für die Gemeinschaft und bringe die Kinder weg vom Computer, hinein ins reale Leben. Apropos Kinder: Memarovic ist ja selbst älter geworden. Mit Anfang 30, so sorgte e sich jüngst, sei er vielleicht schon zu weit weg von der Lebensrealität der jungen Studenten. Wie altbacken muss ihnen das Wort „Offline“ vorkommen? Memarovic wollte es einmal mehr wissen: Er hielt im vergangenen Semester ein Seminar mit dem Schwerpunkt der von Computern vermittelten sozialen Interaktion. Er stellte sich auf einen leeren Seminarraum ein. Aber der war voll. „Die jungen Leute fanden das interessant“, sagt Memarovic, „sie beschäftigen sich mit genau diesen Fragen.“ Er ist immer noch ein bisschen verblüfft.