Spektrum.de/Spektrum der Wissenschaft, 25. August 2015 - Link
Den Begriff Smart Traffic verbinden die meisten mit Parkplätzen, die ihre Belegung per App melden, und computergesteuerten Ampeln, die den Verehr effizient durch die Stadt lotsen. Die allumfassende Vernetzung des Verehrs ist weitreichender. Umstritten ist allerdings, ob sie aus dem Großstadt-Stau und zu nachhaltigem Verkehr führt.
Das autonome Auto fährt vor, der Park-and-Ride-Parkplatz ist bereits reserviert, der öffentliche Bus vom Auto über den Neuankömmling informiert. Das Auto spuckt den Pendler an der Station aus, im selben Moment kommt der Bus. Der fährt nicht alle Haltepunkte an, sein Navigationsgerät weiß, an welchen Stationen weitere Fahrgäste warten. Manche von ihnen sind per Fahrrad gekommen – an jeder Haltestelle gibt es sichere Fahrradgaragen -, andere kommen in einer Fahrgemeinschaft mit Nachbarn, deren Wege sich hier trennen. Und drei Stationen später kommt eine Pendlerin angerannt, die sonst immer mit dem Auto zur Arbeit fährt. Aber ihr persönlicher Verkehrsassistent hat einen langen Stau erkannt und ihr vorgeschlagen, ein paar Minuten früher loszugehen und Bus und Bahn zu nehmen. Sie sei natürlich frei in Ihrer Entscheidung, so die App: „Sie können sich auch in den Stau stellen, Sie erreichen Ihr Ziel dann aber 25 Minuten später.“ Keine Frage: Ein Klick, der Busstopp ist angemeldet, das Ticket gekauft, und das Smartphone lotst die ÖPNV-Novizin auf dem direkten Weg zur Haltestelle.
So ein Szenario könnte in 20 bis 30 Jahren Realität sein. Der regelmäßige Kollaps des Berufsverkehrs und die Feinstaubbelastung sind heute schon zentrale Probleme der Großstädte. Durch eine intelligente Verkehrssteuerung könnte beides entschärft werden, so die Hoffnung vieler Forscher. Wenn in einem Verkehrsleitsystem alle Daten aktuell zusammenlaufen, kann jeder Nutzer individuelle Tipps für seine Route bekommen. „Schnelle, echtzeitfähige und vernetzte Mobilitätsdienstleistungen auf den Markt zu bringen, ist der nächste große Schritt“, sagt Dirk Wittowsky, Leiter der Forschungsgruppe Alltagsmobilität und Verkehrssysteme am Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung in Dortmund. Auch die Infrastruktur kommuniziert dann miteinander: wie im obigen Beispiel kann beispielsweise das Auto seinen Parkplatz und dem Bus einen Fahrgast vormelden, was Umsteigen auf den öffentlichen Nahverkehr für Pendler attraktiver machen könnte.
Das Kommunikationsnetz dahinter ist das Internet der Dinge, das die Mobilität der Zukunft sehr viel grundlegender verändern könnte, als der viel zitierte Parkplatz, der seine Verfügbarkeit dem Autofahrer per App meldet. „Smart Parking ist eigentlich old school“, sagt Lutz Heuser vom Urban Software Institute, einer europäischen Forschungseinrichtung, die Städte und Politik im Bereich Smart Cities berät. Solche Einzelphänomene gebe es schon viele, die große Herausforderung sei nun, diese alle miteinander zu vernetzen, ohne dass dabei allzu viel neue Infrastruktur benötigt wird – denn das ist teuer. Denkbar sei, die klassische Straßenlaterne mit moderner Radarsensorik auszurüsten, so dass sie nicht nur „sehen“ kann, ob ein Parkplatz frei oder besetzt ist, sondern auch, in welcher Geschwindigkeit sich ein Verkehrsteilnehmer nähert, wann dieser Beleuchtung benötigt, und ob die Bewegung auf einen Stau hindeutet. Für diese globale Vernetzung müssen sich allerdings die Hersteller der verschiedenen Systeme auf einen Standard einigen. Noch sind sie kaum kompatibel. Bis zu einem einheitlichen europäischen Standard vergehen laut Heusers Prognose noch drei bis fünf Jahre. „Die Gefahr dabei ist, dass irgendein Global Player einen de facto Standard setzt“, fürchtet Heuser.
Bremst der intelligente Algorithmus den Nahverkehr aus?
Doch selbst wenn diese Hürde gemeistert ist, ergeben sich neue Probleme. Noch ist offen, wie die Daten vor Missbrauch geschützt werden können: schließlich kann man damit über jeden Bürger ein Bewegungsprofil erstellen. Zudem braucht es zusätzlich zu den Echtzeit-Daten einen Optimierungs-Algorithmus, der alle Verkehrsteilnehmer intelligent durch die Stadt leitet. An welchen Kriterien sich dieses Optimum orientieren soll, könnte noch zu Diskussionen führen. Entscheidungen allein anhand der aktuellen Situation können kurzsichtig sein und beispielsweise den öffentlichen Nahverkehr ausbremsen: „Für weniger Treibhausgase kann es sinnvoll sein, die Ampel für auf eine Kreuzung zusteuernde LKW grün zu halten und die Straßenbahn warten zu lassen“, sagt Heuser. Das Ziel sei ein globales Optimum zu finden für die verschiedenen, teils konkurrierenden Anforderungen.
Dabei lauert stets die Gefahr, das Autofahren noch attraktiver zu machen - eine Sackgasse für die Stadt der Zukunft, wie Tobias Behnen vom Geographischen Institut der Universität Göttingen findet: „Smarter Verkehr ist nur eine Symptombekämpfung, die irgendwann wieder im Stau enden wird.“ Wenn der motorisierte Individualverkehr weiter wächst, kommt der Verkehrskollaps zurück. Irgendwann sind alle Möglichkeiten ausgeschöpft, Autos effizienter durch die Städte zu steuern – und die Straßen sind einfach voll. Deshalb sind sich die meisten Experten einig, dass smarte Steuerung nur ein Schritt zu einer nachhaltigen Mobilität sein kann – und vielleicht nicht einmal der wichtigste.
An erster und aus Behnens Sicht wichtigster Stelle steht Verkehrsvermeidung, danach die Verlagerung des Verkehrs auf Bus und Bahnen, Fahrrad und Füße – und erst ganz am Ende die intelligente Technik: „Die hat nicht eine so hohe Wirksamkeit im Sinne der Nachhaltigkeit.“ Wichtig sei ein Umdenken bereits in der Kindheit. „Kinder werden momentan angepasst an das bestehende System“: Eltern fahren sie meistens mit dem Auto von A nach B, Verkehrserziehung meint lediglich das sichere über die Straße kommen, falls das Kind doch mal zu Fuß unterwegs ist. Dabei müsse sie auch den bewussten, verantwortungsvollen Umgang mit Mobilität vermitteln. Wer in der Kindheit keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzt, tut das nach Behnens Erkenntnissen in aller Regel auch später nicht.
Vernetzung macht auch neue Mobilitätsformen attraktiv
Es könnte also ganz schön schwierig werden, den Menschen der Zukunft von der nachhaltigen Mobilität zu überzeugen. Gerade in Deutschland mit seiner starken Autolobby verteidigen viele ihre vermeintliche Freiheit, mit ihrem Auto zu fahren, wann und wohin sie wollen. Aber die mangelnde Effizienz und die Ressourcenknappheit werden irgendwann zum Umdenken führen, hofft Verkehrsforscher Wittowsky: „Der private Individualverkehr ist kein Zukunftsmodell: das Auto steht fast 23 Stunden am Tag auf einem Parkplatz, und wenn es fährt, sitzt meistens nur eine Person drin.“ Gerade die zunehmende Vernetzung ist nicht nur eine Chance für den Autoverkehr: „Sie kann die Eintrittsbarrieren in den öffentlichen Nahverkehr und in neue Mobilitätsformen verringern“, so der Verkehrsforscher. Alle Verkehrsdaten könnten in einem persönlichen Verkehrsagenten zusammenlaufen, der dem Menschen der Zukunft rät, wie er am zielstrebigsten von A nach B kommt. Ein intelligenter Algorithmus kann zudem lernen, welche Strecken der Nutzer regelmäßig zurücklegt und welche Verkehrsmittel er bevorzugt. Wenn auf der üblichen Strecke Stau ist, rechnet das System wie im obigen Beispiel vor, welche Alternativen schneller sind und bietet die entsprechenden Tickets an.
Und dann gibt es noch ganz einfache, im technischen Sinn nicht smarte Lösungen, die aber viel bewegen können: das Eigenheim im Grünen nicht mehr länger zu fördern und die Pendlerpauschale abzuschaffen. Denn an sich sind viele Städte aus Behnens Sicht auf einem guten Weg: „Die Pendler aus ländlichen Räumen sind das größere Problem.“ In den politischen Rahmenbedingungen sieht auch Wittowsky einen wichtigen Mechanismus, um die Menschen zum Umsteigen zu bewegen. Die Autofokussierung sei nur durch einen „Push-und-Pull“-Mechanismus aufzubrechen: denkbar wären intelligente Mautsysteme wie in Stockholm, die eine Fahrt in die Innenstadt teuer machen, wenn es dort ohnehin schon voll ist. Und gleichzeitig sollte ein gutes ÖPNV-Netz mit Echtzeit-Verkehrsplanung und nutzerfreundlichen Ticket-Apps sowie eine gutes Radwegenetz geschaffen werden.
Carsharing kann der Nachhaltigkeit einen Bärendienst erweisen
Auch die viel gelobten Carsharing-Modelle sind vor diesem Hintergrund nicht unbedingt die Lösung aller Verkehrsprobleme. Erstens sei das Phänomen – wenn auch am Wachsen – nach wie vor klein, so Wittowsky, es betrifft nur einen kleinen Prozentsatz der Verkehrsteilnehmer. Und zweitens besteht die Gefahr, dass die falschen Menschen umsteigen: dass nämlich nicht die Autobesitzer zu Autoteilern werden, sondern ÖPNV-Nutzer und Radfahrer zu Autofahrern, weil an jeder Ecke so geschickt ein Free-Floater wie beispielsweise ein Car2Go steht, das einfach spontan zu mieten und auch für Kurzstreckenfahrten attraktiv ist. „Das kann in die falsche Richtung gehen und Autofahren wieder attraktiver machen“, mahnt Wittowsky.
Der einzig sinnvolle Weg sei daher, Städte so zu bauen, dass Wege vermieden werden, findet der Verkehrswissenschaftler und Stadtplaner Helmut Holzapfel von der Uni Kassel. Der Forscher macht keinen Hehl daraus, dass er von Smart Traffic wenig hält: „Man darf Verkehr nicht nur auf seinen Zweck reduzieren.“ Gerade in der Stadt gehe es auch darum, Räume wieder für Radfahrer und Fußgänger attraktiv zu machen und so nicht zuletzt die Kommunikation der Bürger zu stärken. „Wir sollten erst das Leben der Zukunft planen und dann schauen, wie uns die Elektronik dabei helfen kann – und nicht umgekehrt“, kritisiert der Stadtplaner die aktuellen Diskussionen. Seine Vision ist eine multifunktionale und kleinteilige Stadt, in der Arbeiten und Wohnen wieder näher zusammenkommen. Das spart Wege und lädt ein, zu Fuß zu gehen oder Rad zu fahren. Großes Vorbild solcher Ansätze ist das Französische Viertel in der Baden-Württembergischen Kleinstadt Tübingen, das Anfang der 1990er Jahre auf einem verlassenen Kasernengelände entstand. Was damals ein gewagtes Konzept war, gilt heute als städtebauliches Vorzeigeobjekt: In der „Stadt der kurzen Wege“ leben 2500 Menschen, 150 Unternehmen bieten 700 Arbeitsplätze, es gibt Läden, Werkstätten, Dienstleistungen, Spielstraßen – und so gut wie keine Autos. Die braucht man hier nämlich nicht.