Berliner Zeitung, 23. Oktober 2015
Bestimmte Gehirnzellen zeigen bei jungen Probanden mit genetisch erhöhtem Alzheimer-Risiko eine deutliche Beeinträchtigung. Forscher hoffen mit dieser Entdeckung zur frühen Diagnose von Alzheimer beitragen zu können. Das wäre die Grundlage für eine mögliche Therapie. Noch sind aber viele Fragen offen.
Veränderungen des Gehirns, die mit Alzheimer zusammenhängen und die räumliche Orientierung betreffen, zeigen sich möglicherweise schon lange bevor die Krankheit ausbricht. Neurowissenschaftler unter anderem der Universitäten Bochum, Bonn, Nimwegen und des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen Bonn haben gemeinsam mit Psychologen der Uni Ulm eine veränderte Funktionsweise des Gehirns bei jungen Probanden mit erblich bedingtem erhöhtem Alzheimer-Risiko entdeckt. „Bisher wird Alzheimer meist erst diagnostiziert, wenn bereits große Hirnbereiche zerstört sind“, sagt der Neurowissenschaftler Nikolai Axmacher von der Ruhr-Universität Bochum. Erst dann zeigen sich deutliche Symptome. Aber unabhängig davon, ob es wirksame Therapien gegen Alzheimer gibt, ist ein Eingreifen dann zu spät.
„Solch große Hirnbereiche können nicht wieder hergestellt werden.“ Deshalb sei eine frühzeitige Diagnose eine Grundlage für mögliche Therapien – an denen die Wissenschaft ebenfalls noch arbeitet. Die Forscher hoffen, dass ihre Entdeckung zusammen mit anderen Verfahren wie der Genanalyse zum frühen Erkennen der bis heute als unheilbar geltenden Krankheit beitragen kann, die mehr als eine Million Deutsche und mehr als 40 Millionen Menschen weltweit trifft – bei steigender Tendenz.
Die Forscher rekrutierten für ihre Studie, die nun im Fachmagazin „Science“ erschienen ist, 531 gesunde Studierende mit einem durchschnittlichen Alter von 22 Jahren und untersuchten sie zunächst auf eine bestimmte Genmutation, die das Alzheimer-Risiko drei bis zehnfach erhöht – je nachdem, ob die Betroffenen die Mutation von einem oder von beiden Elternteilen geerbt haben. In einem doppelblinden Verfahren teilten sie daraus eine Gruppe Risikogenträger und eine Kontrollgruppe mit durchschnittlichem Risiko ein. Die Probanden mussten anschließend eine virtuelle Navigationsaufgabe lösen, bei der sie in einer Art Labyrinth Gegenstände finden und später wieder an der gleichen Stelle ablegen mussten. Die Forscher beobachteten dabei die Funktion einer speziellen Hirnregion mittels funktioneller Magnetresonanztomografie.
Das Experiment beruht auf der Annahme, dass Risikogenträger im Entorhinalen Kortex, einer bei Alzheimer früh betroffenen Gehirnregion, möglicherweise beeinträchtigte Grid-Zellen aufweisen. Diese Zellen, die im Deutschen Raster- oder Gitterzellen genannt werden, entdeckten die norwegischen Wissenschaftler May-Britt Moser und Edvard Moser 2005 und erhielten dafür im vergangenen Jahr den Medizin-Nobelpreis. Die Grid-Zellen fungieren nach ihrer Erkenntnis als eine Art Positionierungssystem im Gehirn und gelten als eine Grundlage für das räumliche Gedächtnis.
In der Tat war das Ergebnis des aktuellen Experiments eindeutig: „Risikogenträger haben eine massive Beeinträchtigung der Repräsentation dieser Zellen“, sagt Axmacher. Verblüffenderweise lösten sie das Experiment dennoch ebenso gut wie die Probanden der Kontrollgruppe. Wie kann das sein? Im Magnetresonanztomografen zeigte sich den Forschern, dass das Gehirn den Ausfall der Grid-Zellen offenbar kompensiert, indem eine andere Region Zuhilfe gezogen wird: bei den Risikogenträgern arbeitete vorallem der Hippocampus, eine Hirnregion, die mit dem Gedächtnis und räumlicher Navigation assoziiert wird.
Der Zusammenhang könnte natürlich auch andersherum sein: ein überaktiver Hippocampus könnte die Grid-Zellen ausbremsen. „Das sind alles nur Beobachtungen“, betont Axmacher: die Kausalitäten dahinter sind unklar. Die Entdeckung passt allerdings zu einer bereits existierenden Theorie in der Neurowissenschaft: die Mehraktivität des Hippocampus könnte schädliche Folgen haben, da diese Hirnregion bei den Betroffenen permanent mehr beansprucht ist. Daten anderer Experimente weisen darauf hin, dass diese Überbeanspruchung zu Alzheimer führen könnte. Noch ist also völlig offen, was hier Henne und was Ei ist.
Das Experiment gibt der Wissenschaft also viele Hausaufgaben auf den weiteren Weg: Offen ist, ob es sich beispielsweise mit älteren Probandengruppen replizieren lässt. So spektakulär die Entdeckung ist, dass Probanden schon in jungen Jahren beeinträchtigte Zellen haben, Jahrzehnte bevor Alzheimer ausbricht – so ungewiss ist, ob die Betroffenen die Krankheit auch tatsächlich bekommen. Was genau das Experiment für die Diagnose von Alzheimer bedeutet, muss erst durch viele Nachfolgestudien geklärt werden. Nikolai Axmacher hat dennoch schon eine Vision für die Zukunft: in 10 bis 20 Jahren, wenn die Wissenschaft das Risikoprofil für Alzheimer besser verstanden hat, könnten Betroffene mit besonders hohem Risiko möglicherweise präventiv Medikamente bekommen. Bis dahin muss freilich noch erforscht werden, welche Wirkstoffe effektiv gegen Alzheimer helfen.