DIE ZEIT, 21. Januar 2016
Lässt sich alles, was wir erleben, digital speichern? Informatiker arbeiten daran. Wie ich Teil eines Experiments wurde.
Der Cyborg, der mir im Frühling 2013 in einem Stuttgarter Cafe gegenüber sitzt, sieht aus wie ein ganz normaler Mitvierziger mit leichten Geheimratsecken, in Hemd und Jeans. Nur sein türkiser Brillenbügel ist auffällig breit. Am vorderen Ende ist eine kleine Kamera eingearbeitet und ein Prisma. Seine rechte Hand steckt in der Hosentasche.
Thad Starner ist nicht allein. Er hat sein »System« bei sich. Das erkennt man an seiner Googlebrille und einer nahezu unsichtbaren rechteckigen Spiegelung auf seiner Netzhaut. In seiner Hosentasche hat er eine Fünffinger-Tastatur. Starner ist Informatikprofessor am Georgia Institute of Technology und ein Pionier der Erforschung anziehbarer Computer (wearable computing). Fast sein halbes Leben lang, seit mehr als 20 Jahren, trägt er wechselnde Versionen eines Prototypen am Körper. Er sieht sein »System« als Erweiterung seines Gehirns.
Begeistert und atemlos wie ein Erstklässler nach dem ersten Schultag erzählt er, lacht dabei oft und wendet den Blick kein einziges Mal ab. Der 45-jährige Professor gibt dabei aber nicht die Erlebnisse eines Tages wieder. Er erzählt Episoden aus seinem ganzen Leben, und zwar mit exakten Jahreszahlen, vielen Namen, Begegnungen, Schlüsselereignissen. Die nötigen Stichworte spiegelt ihm die Datenbrille auf die Netzhaut ebenso wie Anrufe und Nachrichten. All das geschieht unauffällig: »Aufmerksamkeit ist unsere wertvollste Ressource«, sagt Starner, unser Gespräch würde nicht unterbrochen – das er übrigens gerade mit protokolliere, und zwar schneller als ich in meinem Block.
Bevor ich »Äh was?« sagen kann, hat er meinen irritierten Blick schon bemerkt: Das mache er immer, sagt er, so könne er beim nächsten Treffen direkt anknüpfen und wisse obendrein mit einem Klick, wer ihm gegenüber sitze, ob er Kinder habe und was sonst so interessant sein könnte. Verwerflich? Politiker hätten doch auch Assistenten, die ihnen ständig etwas einflüsterten. Und, mal ehrlich, dieses Hantieren mit Zettel und Stift, er zeigt auf mich, sei doch ziemlich umständlich.
Welch ein Traum: Jeden Menschen auf Anhieb wieder erkennen, nie mehr zwei Mal den gleichen Witz erzählen, alles je Gewusste auf einen Klick vor Augen haben. Aber will ich zum Datensatz dieses »Systems« werden, das Starner da bei sich trägt? Zu spät. Ich bin bereits drin.
Solche Begegnungen könnten Alltag werden. Auch europäische Wissenschaftler arbeiten an einer Erweiterung unseres Gedächtnisses. Mit zwei Millionen Euro fördert die EU derzeit das Projekt Recall, in dem Forscher aus fünf Universitäten der Schweiz, Großbritanniens und Deutschlands daran arbeiten, wie Computer in Zukunft unser Leben protokollieren können. »Das ist näher als viele glauben«, sagt der Stuttgarter Informatiker Albrecht Schmidt, einer der deutschen Projektbeteiligten. Wir alle werden automatische Kameras tragen, glaubt er, kaum einer werde in Zukunft auf das perfekte Gedächtnis verzichten wollen. Automatische Kameras? Wer den Bestseller »The Circle« kennt, bekommt jetzt eine Gänsehaut. In dem gab Buch führen solche Kameras in eine totale Überwachung.
»Ich könnte dich jetzt auch filmen«, sagt Thad Starner beim Abschied, »aber ich tue es nicht.« Wie kann ich da sicher sein? »Wie sollte ich?«, fragt er empört: Googleglass funktioniere mit Sprachbefehlen. Ich würde es hören. »Ok Glass, take a picture«, sagt er. »So, siehst du.« Außerdem leuchtet ein rotes Lämpchen bei Betrieb der Kamera. Alles übertriebene Sorgen?
Dublin City University, Dezember 2015. Cathal Gurrin lacht, als ich ihn auf das rote Warnlämpchen anspreche. Das war das erste, was tat, als er eine Googlebrille in die Finger bekam: Er schrieb ein Programm, um das Lämpchen zu deaktivieren. »Das ist wirklich einfach, kann jeder.« Außerdem stellte er das Gerät auf Automatik um: Nun machte es alle paar Sekunden ein Foto. Ohne dass etwas leuchtete oder störte. Und ohne dass es sein Gegenüber merkte. »Googleglass hätte das perfekte Lifelogging-Tool werden können«, sagt der 40-jährige irische Informatikprofessor bedauernd, »aber Google wollte ja nicht.« Für ihn ist das längst Geschichte. Gerade hat er seine Leihgabe aus der Science Gallery abgeholt, einem Museum, das eine Ausstellung zum Thema Lebensaufzeichnung hatte. »Dinge aus der Vergangenheit« steht auf dem wattierten Umschlag. Darin steckt seine Googlebrille.
Fast aus Versehen wurde Gurrin vor knapp zehn Jahren zum Dokumentar seines eigenen Lebens. Als an seinem Institut ein Proband gesucht wurde, der vierzehn Tage lang eine Fotokamera an der Brust tragen sollte, fand sich keiner. So meldete sich schließlich der Chef selbst: »Mir machte das am wenigsten aus.« Und nach den zwei Wochen machte er einfach weiter. Inzwischen trägt er zusätzlich eine Smartwatch, die einige Körperdaten misst, und seit einigen Wochen ein Mikrofon. Das alles geschieht automatisch. »Es fühlt sich gut an, wenn alles dokumentiert ist«, sagt Gurrin.
Schließlich könne alles einmal wichtig werden. Gegenwärtig, in unserem lausigen Gedächtnis, werde es so schlecht gespeichert. Vor einigen Jahren hat der Lifelogger mit Psychologen ein Erinnerungsexperiment gemacht: er selbst gegen sein ausgelagertes Gedächtnis. Immerhin hat kein anderer Forscher so viel Lebenszeit so akribisch dokumentiert, niemand sonst kann so perfekt das, an was er sich in den letzten zehn Jahren erinnert, mit dem vergleichen, was wirklich war. Das Ergebnis des Experiments: Sein digitales Gedächtnis war klarer Sieger. »Wir werfen eben alles durcheinander, wir vergessen – das, was wir im Kopf haben, ist nicht die Realität.«
Damit nichts verloren geht, schießt die Kamera an Gurrins Brust zwei Fotos pro Minute. Immer. Außer wenn ihr Träger schläft. Nur drei Mal sei er in all den Jahren gebeten worden sie auszuschalten. Zweimal auf wissenschaftlichen Konferenzen, einmal in einer Kneipe von einer betrunkenen Frau. »Was machst du mit meinem Foto, hat die immer gesagt. Nichts, habe ich gesagt. Aber sie hat das nicht geglaubt.«
Dabei stimmte es wahrscheinlich. Die meisten Bilder verschwinden in Gurrins Datentresor, ohne dass er sie je ansieht. Ihre automatisierte Auswertung ist sein Lebensprojekt. Er führt mich in sein Büro, eines der wenigen abschließbaren in der Uni. Dort steht der Safe, ohne Verbindung zum Internet, getrennt vom Uni-Netzwerk. Gurrin hütet seine Daten gut. Er scrollt durch die Fotos der letzten Tage: Bildschirme. Kaffeetassen. Bildschirme. Menschen von weitem. Und zweierlei Arten von Gesichtern: jene, die der Kamera ganz nah kommen, sie fasziniert mit großen Augen betrachten. Und jene, die offenbar aus dem Bild fliehen wollen, den Kopf weit nach hinten gelehnt, ein skeptisches Schielen nach unten zur Linse.
Zwei Aufnahmen hat er extra gespeichert: »Das ist das erste Bild von meiner Freundin«, sagt er, hält inne, sucht, scrollt: »Und das ist das letzte.« Dabei soll es aus seiner Sicht auch bleiben. Die Ex-Freundin hatte heimlich eine Spionage-Software auf seinem Laptop installiert, die ihr das gesamte digitale Tagebuch ihres Freundes zuspielte. Gurrin hat es lange nicht gemerkt, er sagt, weil er es nicht wahrhaben wollte. So musste er am eigenen Leib erleben: Daten wecken Begehrlichkeiten. Trotzdem hat er sich entschieden weiter zu machen. Aber seitdem spricht er mehr über Datenschutz.
Gurrins Traum ist, zusätzlich zu Bild, Ton, Herzrate und Stresslevel auch noch Gerüche und Geschmäcker digital speichern zu können. Dabei überfordern ihn schon die Bilder. Während Thad Starner aus Georgia all seine Textnotizen nach Begriffen durchforsten kann, funktioniert eine Suche bei Bildern noch schlecht. Selbst die Entwickler mit dem größten Bilder-Datenschatz – jene bei Google – tüfteln noch daran, den Computer zuverlässig Gegenstände erkennen zu lassen. Der Konzern hat angeboten, mit dem Iren zu kooperieren und seine Fotos durch die eigene Analysemaschinerie zu jagen. Aber der hat abgelehnt: »Google kriegt meine Daten nicht.« Auch Recall-Forscher Marc Langheinrich von der Universität Lugano warnt: „Wenn uns die Privatsphäre wichtig ist, müssen wir unser erweitertes Gedächtnis ohne Google und Facebook organisieren.“
Stattdessen arbeitet Gurrin mit einer Handvoll Doktoranden an einer Art Mikrosuchmaschine – nicht für das Netz, sondern für sein eigenes Leben. Ein Zwischenergebnis kann man auf einem großen Monitor in seinem Büro betrachten: Da leuchten unzählige Pixel auf, für jede Minute seines Lebens gibt es ein kleines Quadrat. Ein Algorithmus ordnet jeder Minute eine Farbe zu, abhängig von der vorherrschenden Farbe des jeweiligen Fotos. Gurrin kann am Farbwechsel sehen, wann er morgens das Haus verlässt, wie lange er vor dem Rechner sitzt und dass er viel zu selten im Grünen ist. Dazwischen ploppen per Zufall Fotos auf. Das System ist allerdings noch eine Krücke. Immer wieder flucht Gurrin, weil er Szenen nicht auf Anhieb findet.
Wie geht unser Gehirn beim Durchforsten von Erinnerungen vor? Daran sollten sich Forscher bei der Entwicklung solcher »Erinnerungsbrowser« orientieren, findet Recall-Forscherin Katrin Wolf von der Berliner Technischen Kunsthochschule. Sie hat an Probanden untersucht, woran sich Erinnerungen festmachen und was eine automatische Auswertung erkennen müsste, damit wir darin sinnvoll suchen können: Orte, Aktivitäten, Menschen, die wir getroffen haben. In ihrem Prototypen kann man entlang eines Zeitstrahls suchen, auf einer Karte oder anhand von Gesichtern.
Ihr irischer Kollege Gurrin möchte auch Antworten auf komplexe Fragen bekommen wie »Zeige mir, wie ich als Kind mit Oma Kekse gebacken habe« oder »Wann habe ich zuletzt mit Peter über die Privatsphäre gestritten?« Aktuell organisiert er einen Wettbewerb, um den besten Lifelogging-Algorithmus zu küren: Die Einträge von jeweils 30 Tagen, insgesamt 90 000 Bilder, haben er und ein Kollege an 19 verschiedene Forschungsteams aus aller Welt geschickt. Zusammen mit Fragen wie: »Welcher Nutzer hat den gesünderen Lebensstil?« Die vielen Kaffeetassen werden die automatischen Systeme gut erkennen. Aber gesundes Essen, Sport, Freunde? Hier wird es knifflig. Der Computer muss nicht nur Dinge benennen, er muss Bedeutungen verstehen.
Eigentlich muss der perfekte digitale Lebensbegleiter so etwas Ähnliches beherrschen wie das Vergessen. Denn auf diese Weise setzt unser Gehirn Prioritäten. So gibt es zum Beispiel viele Informationen, die nur durch bestimmte Schlüsselreize freigesetzt werden, ansonsten würden sie stören. Am Bankautomaten fällt uns die richtige Pin ein; oder wir erinnern uns bei einem bestimmten Geruch plötzlich an ein konkretes Abendessen. Psychologen erforschen im Recall-Projekt, wie unsere Erinnerung im Detail funktioniert. Um sie nachzubilden – und um zu lernen, wie man unwichtige Daten im Hintergrund verschwinden lassen kann.
Auf lange Sicht denken die Forscher an ein Unterstützungssystem für den Alltag, das sich aus Lifelogging-Daten speist. »Es könnte uns auf Situationen vorbereiten, indem es uns beispielsweise auf der Fahrt zu einem Meeting eine Video-Zusammenfassung des vorangegangen Termins präsentiert«, sagt Katrin Wolf. Man könnte natürlich das Leben auch allgemein ein wenig verschönern. »Der Computer könnte uns an angenehme Situationen erinnern, wenn wir betrübt sind« – zum Beispiels mittels Bilder unserer lachenden Freunde. Experimente bestätigen, dass solche Erinnerungen die Stimmung heben. Voraussetzung für die Gute-Laune-Maschine wäre allerdings, dass sie versteht, was für uns Menschen schöne Erlebnisse sind. Davon sind die Algorithmen heute noch weit entfernt.
Die Nachteile der automatisierten Bewertung von gespeichertem Wissen bekomme ich zu spüren, als ich erneut mit dem Amerikaner Thad Starner Kontakt aufnehmen möchte. Meine Mails laufen ins Leere. Ich weiß, auch Starner braucht für sein »System«, das seine Gewohnheiten und Pläne kennt, eine Bewertungssoftware. Die unterscheiden kann, was wichtige und unwichtige Termine sind, welche Personen relevant sind, und dementsprechend Anfragen weiterleitet. Oder eben nicht. Sortiert mich das System ans Ende einer Skala von Wichtigkeit? Nimmt er meine Kontaktversuche nicht wahr?
Ich bitte einen mit Starner vertrauten Wissenschaftler, der eine höhere Priorität in seinem System haben müsste, ihm in einer Mail meine Anfrage weiterzureichen. Und tatsächlich: Minuten später mailt Starner mir, am Tag darauf telefonieren wir: »Hey Eva, wie geht’s dir? Das war ein gutes Gespräch mit dir damals.« Er erinnert sich noch an jedes Wort. Hat er mich gerade noch ignoriert, sind wir jetzt wieder Kumpel. Das wirkt unecht. Starners detaillierte »Erinnerungen« suggerieren Vertrautheit und Nähe. Für ein Telefonat lang.
Auch der irische Lifelogger Cathal Gurrin macht nicht ausschließlich gute Erfahrungen mit der pausenlosen Dokumentation seines Alltags. Nach einem langen Arbeitstag sitzt er im Hotel »The Westin« mit einem seiner engsten Weggefährten, Rami, einst Doktorand, heute Lifelogging-Partner. Die mit rotem Samt überzogenen Sessel, die Kronleuchter mit dem warmen gelben Licht, der Flair vergangener Zeiten: Gurrin genießt den Kontrast zu seiner anderen Welt mit den Bildschirmen. Sein 33-jähriger Kollege hat seine neue Freundin mitgebracht – und die ist gar nicht begeistert davon, dass ihr neuer Lover auch ihr erstes Date aufgezeichnet hat.
»Ich will meine Momente nicht teilen«, sagt sie. Und dann will sie wissen: »Wie geht das, wenn man dabei nicht mitmachen will?« Natürlich ist die Antwort darauf eine technische. »In Zukunft«, erklärt Rami, »registrierst du dich dann einfach nicht.« Den Wissenschaftlern schwebt vor, dass gepixelt wird, wer außen vor bleiben möchte. Eine gute Gesichtserkennung sei dafür allerdings Voraussetzung und deshalb nicht Bedrohung, sondern Grundlage für eine geschützte Privatsphäre. Dann könnten Nutzer auch festlegen, in wessen Log sie sichtbar sein wollten und in wessen nicht.
»Ich würde meine Ex-Freundin sperren«, sagt Gurrin. Doch die junge Frau in Ramis Begleitung bleibt skeptisch. »Wozu ist das gut?« Gurrin scherzt: »Ich könnte dir sagen, wie viele dieser Erdnüsse Rami heute Abend gegessen hat.« Er wird etwas ernster und zählt auf, was Lifelogging aus seiner Sicht verbessern könnte: Gesundheitssystem, Versicherungen, Lebensstil. »Und ich fände es schön, wenn meine Enkel sehen könnten, wie ich gelebt habe«, ergänzt Rami.
»Das ist der erste Schritt in die Ewigkeit, wenn unsere Erinnerungen für immer erhalten bleiben.« Gurrin spinnt den Faden weiter: »Wenn wir verstanden haben, wie unser Gehirn funktioniert, könnten wir es mit allen Lifelogging-Daten auf eine Maschine laden und ewig leben.« Wäre das dann noch Leben? Er zuckt mit den Schultern.
Am nächsten Tag präsentiert Gurrins Algorithmus den Abend in einem warmen Gelb. Eine seltene Farbe. Immer wieder ploppen Bilder von mir, Rami und seiner Freundin auf dem Bildschirm auf. Werden wir in der Datenmasse verschwinden? Oder eines Tages wieder auftauchen, zum Beispiel, wenn Gurrin sein externes Gedächtnis befragt: Wann habe ich damals im Westin beim Guiness diese wilden Zukunftsvisionen gesponnen?