spektrum.de/ Spektrum der Wissenschaft, 29. Juli 2015 - Link
Deutsche Stadtverantwortliche haben häufig ganz andere Ideen, was gut für ihre Stadt ist, als die großen Technologiekonzerne mit ihren globalen Smart-City-Konzepten. Forscher suchen Lösungen für Europa. Ihre erste Erkenntnis: Projekte sollten von unten wachsen.
Was für eine Utopie: Sensoren registrieren jede Aktivität der Bürger, Kameras haben alle im Blick, die sich in einer Stadt bewegen, die gesamte öffentliche Infrastruktur ist mit dem Internet verbunden. Intelligente Algorithmen berechnen aus all diesen Daten den effizientesten Ablauf des Lebens: welcher Verkehrsteilnehmer auf welcher Route am schnellsten zum Ziel kommt, welche Mülleimer geleert werden müssen, auf welchen öffentlichen Toiletten das Klopapier aufgefüllt werden und in welchen Gebäuden die Klimaanlage wie viel kühlen muss und welche Jalousien wann heruntergefahren werden. Die Stadtoberen treffen keine irrationalen Entscheidungen mehr, Computer berechnen schließlich, was das Beste für die Gesellschaft ist – und setzen es auch gleich um: Pragmatismus statt Vetternwirtschaft. Und der Stadtbewohner muss sich um vieles nicht mehr selbst kümmern, er hat wieder Zeit für das Wesentliche im Leben.
Für manche ist diese Vision einer Smart City aber auch eine Horrorvision. "Wenn der öffentliche Bereich einem nahtlosen Funktionieren unterworfen wird, hört die Stadt auf, ein Ort der öffentlichen Auseinandersetzung zu sein, und verkommt zu einem banalen Konsumparadies", fürchtet der Züricher Architekturtheoretiker Hans Frei. Ähnlich wie beim autonomen Auto würden dann aus Bürgern Passagiere, für die digitale Assistenten das Steuer übernehmen. "Das öffentliche Leben wird wie der Verkehr auf der Autobahn geregelt." Vielleicht überdecken die europäischen Datenschutzbedenken sogar das wahre Problem: "Letztlich entpuppen sich smarte Städte als eine viel größere Gefahr für die Öffentlichkeit als für die Privatheit", so Frei.
Und womöglich geben ihm erste Erfahrungen Recht: Das Bild der Smart City ist geprägt von extremen Beispielen wie der Wüstenstadt Masdar City in Abu Dhabi, die als umweltfreundliche Zukunftsstadt am Reißbrett geplant wurde und an ihrer Riesenhaftigkeit gescheitert ist: Die Kosten für die aus dem Boden gestampfte Stadt, in der die gesamte Infrastruktur mit Hightechzubehör ausgestattet ist, explodierten, die erwartete Nachfrage trat nicht ein, so dass die Stadt heute halb fertig und kaum bewohnt ist. Ähnlich ergeht es New Songdo City in Südkorea. Die Stadt ist zwar seit 2007 bezugsfertig, aber für ein Leben unter technologischer Kontrolle interessieren sich weniger als angenommen: Etwas mehr als 20 000 Menschen leben heute dort und werden von Kameras und Sensoren auf Schritt und Tritt begleitet.
Technologische Effizienz versus Bürgerbeteiligung
Schon als die Europäische Union ihre "Smart Cities and Communities"-Initiative gestartet habe, sei kein einziger Stadtvertreter dabei gewesen – und das sei so geblieben: Stattdessen habe sich der damalige EU-Kommissar für Energie, Günther Oettinger, stets in Gesellschaft von Industrievertretern gezeigt: "Da sieht man doch schon, wie der Hase läuft." Während in den lobbyistengeprägten Normierungsverfahren vor allem technologische Effizienz eine Rolle spiele, sei die Identifikation der Bürger mindestens ebenso wichtig für Smartness, sagt Lojewski. "Da sehen wir Deutschen mit unseren langen Planungsverfahren, unserer Demokratie und unserer Bürgerbeteiligung alt aus."
Auch Jens Libbe vom Deutschen Institut für Urbanistik findet die Durchsetzung von Standards der Normungsorganisationen für Smart Citys problematisch: "Hier werden mehr oder weniger unverblümt Interessen global tätiger Konzerne verfolgt." Anstatt die Bedürfnisse deutscher Städte zum Maßstab zu nehmen und jene smarten Prozesse zu integrieren, die sich an die bestehenden Strukturen anpassen, würden Städte "allein als Marktplatz der Technologieanwendung begriffen."
Vor diesem Hintergrund kann man das Beispiel New Songdo City als ein großes Schaufenster des amerikanischen Technologiekonzerns Cisco verstehen, der dort seine gesamte Expertise einbrachte und alles nur Erdenkliche vernetzte: das Internet of Everything, wie Cisco es proklamiert, kristallisierte dort. Hier zu Lande werden die Konzerne von der Realität ausgebremst: Deutschland ist dicht bebaut, hier werden keine Städte am Reißbrett geplant. Es ist viel aufwändiger, intelligente Systeme in bestehende Strukturen einzubauen, als ganze Städte von Anfang an entsprechend auszurüsten.
Aber sind die Milliarden in Deutschland wirklich so einfach zu ernten? Die Vision, alles zu vernetzen, sei stark industriegetrieben, sagt Alanus von Radecki, Leiter der "Morgenstadt"-Initiative der Fraunhofer-Gesellschaft. "Die Städte haben einen anderen Blickwinkel: Wie kann ich die Lebensqualität meiner Bürger steigern?" Das sei häufig mit vielen kleinen Projekten direkter möglich – eine spätere Vernetzung nicht ausgeschlossen. Das Projekt "Morgenstadt" soll helfen, passende und wirtschaftliche Lösungen für Europas Städte zu entwickeln. Die Forscher haben seit 2011 mehr als 100 Beispiele aus aller Welt analysiert. "Jede Stadt ist anders, jede muss selbst ihren Weg finden und passende Lösungen implantieren", sagt von Radecki. Das Haupthindernis seien die noch unbekannten Risiken. "Es fehlen Präzedenzfälle dafür, welche Probleme noch kommen können und ob sich bestimmte Konzepte langfristig lohnen."
Gerade im Vergleich verschiedener Städte könne man die unterschiedlichen Entwicklungspfade sehen, die zu einer Smart City führen, so von Radecki. In Eindhoven beispielsweise wird ein Quartier EU-gefördert mit verschiedenen Sensoren ausgestattet, deren Daten an interessierte Start-ups freigegeben werden. 160 Unternehmen sind aktuell dabei, daraus Dienstleistungen zu entwerfen – denkbar sind beispielsweise smarte Parkpreise abhängig von der Nachfrage oder Plattformen für Carsharing-Dienste. Solche sich von unten aufbauenden Projekte seien zukunftsträchtiger als von oben verordnete Riesenprojekte, glaubt von Radecki. Denn zentral müsse die Frage sein: "Wie kann man auf Grund der verfügbaren Daten Mehrwert für den Nutzer schaffen?"
Technologie für die Effizienz, Architektur fürs Gemüt
Auch der Architekt Carlo Rattik vom SENSEable City Laboratory des MIT und Anthony Townsend vom Institute for the Future in Palo Alto raten, den Bürger als kreativen Part auf dem Weg in die urbanen Zentren der Zukunft nicht aus den Augen zu verlieren: "Wie immer die Ziele lauten -ob Nachhaltigkeit oder weniger Staus –, mit der richtigen technischen Umsetzung können die Stadtbewohner effektiver dazu beitragen als bei zentralisierten Konzepten", schreiben die beiden Forscher in "Spektrum der Wissenschaft". Die Gefahr sei groß, dass Technologiekonzerne vor allem in Top-down-Konzepte investieren. Dabei werde häufig vergessen, die Konfiguration an das reale Leben anzupassen. "Ein ausschließlicher Fokus auf effiziente Abläufe ignoriert fundamentale bürgerliche Ziele wie Lebensqualität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit."
Cisco hingegen gibt sich angesichts der Kritik selbstbewusst. Als Technologiekonzern sei man nun mal für Effizienz zuständig, sagt Lars Gurow, Sprecher von Cisco Deutschland. "Eine lebenswerte Stadt und Effizienz schließen sich ja nicht aus." Im Gegenteil: Eine effiziente Infrastruktur steigere die Lebensqualität. Auch wenn neue Projekte in Deutschland klassischerweise "sehr gründlich angegangen würden" und die Kommunen eine gewisse Zeit des Überlegens beanspruchten, sähen immer mehr deutsche Städte Chancen in Smart-City-Konzepten. Angesichts des Wettbewerbs um die zahlungskräftigen jungen Bürger komme keine Stadt darum herum, sich mit den neuen Technologien zu beschäftigen. "Das ist eine Chance, die die Städte nutzen müssen."
Diese Unausweichlichkeit sieht auch der Züricher Architekturtheoretiker Hans Frei: Wenn im Jahr 2030 fünf Milliarden Menschen in Städten leben werden, werde das ohne Smart-City-Technologien nicht möglich sein. "Die Frage ist, ob die Erfolgsgeschichte der Stadt dann weitergeschrieben wird." Denn auch wenn die Technikfirmen nicht vorgeben, etwas von Städtebau zu verstehen, so stellten ihre Konzepte doch eine neue Doktrin des Städtebaus dar. Computer machten dann die Arbeit von Architekten und Stadtplanern überflüssig, fürchtet Frei. "Architektur mag dann noch gut sein fürs Gemüt oder fürs Image." Wobei das ja auch irgendwie wichtig ist.
von Eva Wolfangel