spektrum.de, 17. Juli 2015 - Link
„Bitte beschäftigt euch mit unserer Forschung, sie wird euer Leben verändern“: sinngemäß diese Forderung schreit aus einigen Beiträgen im aktuellen „Science“-Magazin zum Schwerpunkt „Künstliche Intelligenz“ hervor. Die Forscher haben Recht mit ihrem Hilferuf, findet Eva Wolfangel: Es ist Zeit aufzuwachen.
Fahren wir auf eine Klippe zu und hoffen, dass das Benzin leer ist, bevor wir in den Abgrund stürzen? Dieses drastische Bild zeichnet der KI-Pionier Stuart Russel von der University of Califormia in der aktuellen Ausgabe des "Science"-Magazins angesichts all derer, die sagen: Maschinen werden nie intelligenter sein als Menschen. Ob es zu diesem Punkt je kommt, steht in den Sternen. Aber auch das, was selbst lernende Algorithmen heute schon können, fordert eine Neuorientierung der Gesellschaft. Das Bild Russels ist symptomatisch für unseren Umgang mit dem Thema künstliche Intelligenz: Anstatt sich genauer mit dem zu beschäftigen, was die modernen Technologien selbst lernender Systeme an Veränderungen für unser Zusammenleben mit sich bringen, halten wir uns lieber die Augen zu und hoffen, dass es schon gut gehen wird. Einerseits fördert die Gesellschaft entsprechende Entwicklungen mit hohen Fördersummen, andererseits weigern sich Politiker, sich tiefer mit dem Thema auseinanderzusetzen und entsprechende Gesetze auf den Weg zu bringen.
Wie unzureichend die gegenwärtige Rechtsprechung auf das vorbereitet ist, was intelligente Systeme heute schon können, zeigen Eric Horviz von Microsoft Research und Deirdre Mulligan ebenfalls in "Science" eindrücklich auf. So ermögliche die Analyse von öffentlich zugänglichen Twitterposts oder Facebooknachrichten eine Vorhersage drohender depressiver Erkrankungen – was einerseits gut für die Gesellschaft sein könnte, die Betroffenen so helfen kann, bevor sie in eine fortgeschrittene Phase der Krankheit kommen. Andererseits können Arbeitsgeber solche Analysen nutzen, um Bewerber abzulehnen, die ein großes Erkrankungsrisiko in der Zukunft haben. Nach aktuellem Recht ist das legal, da solcherlei Vorhersagen im Gesetz nicht vorgesehen sind. Erst das Vorhandensein großer Datenmengen und moderne intelligente Algorithmen machen sie möglich. Bewerber sind aktuell vom Gesetz nur dann geschützt, wenn sie bereits krank oder behindert sind – nicht, wenn sie es erst werden könnten.
Es erscheint absurd, dass ausgerechnet Vertreter von Unternehmen wie Microsoft Research, die an den künftigen Entwicklungen der künstlichen Intelligenz verdienen wollen, förmlich um Regulierung betteln. Der Beitrag von Horvitz zeigt auch die Besorgnis der Forscher angesichts von Politikern, die technologische Entwicklungen scheinbar nicht ernst nehmen oder nicht verstehen. Natürlich ist es auch ein komplexes Thema: Aktuelle selbst lernende Systeme nach dem Vorbild neuronaler Netze erzeugen vielschichtige Ergebnisse, so Horvitz, "die selbst ihre Entwickler möglicherweise nicht in ihrer Gänze verstehen."
Aber gerade deshalb müssen Politiker die Bürger schützen. Kaum ein Nutzer kann einschätzen, auf Grund welcher Daten ein Algorithmus beispielsweise seine Depressionsanfälligkeit berechnet. "Maschinelles Lernen erschwert es dem Einzelnen zunehmend zu verstehen, was andere über ihn wissen können auf der Basis jener Dinge, die er bewusst geteilt hat", so Horwitz.
In der Vergangenheit haben Forscher immer wieder gezeigt, wie einfach es zudem ist, Einzelne in anonymisierten Datensätzen zu identifizieren. Je mehr öffentlich geteilte Daten und intelligente Rechenprogramme hinzukommen, umso schwieriger wird es in Zukunft, einzelne Nutzer verlässlich zu anonymisieren. Vermutlich wird es bald genügend verfügbare Daten über jeden von uns geben, dass eine Anonymisierung zur Farce wird.
Fakt ist, dass die neuen Technologien mit guten oder mit schlechten Absichten genutzt werden können: zur Krankheitsprävention ebenso wie zur Diskriminierung. Anstatt das Datensammeln an sich regulieren zu wollen, sei es daher sinnvoller, nutzungsbasierte Gesetze zu implementieren, so Horvitz: "Auch wenn das eine Herausforderung ist, sind solche Gesetze ein wichtiger Teil der rechtlichen Landschaft der Zukunft. Sie werden helfen, Freiheit, Privatsphäre und das Allgemeinwohl voranzubringen." Solche Perspektiven sollten eigentlich Politiker einnehmen, anstatt an überholten Regulierungsmechanismen festzuhalten.
Selbst lernende Systeme und künstliche Intelligenz stürzen uns in keinen Abgrund. Im Gegenteil, sie versprechen spannende neue Erkenntnisse und können unser Leben verbessern – wenn wir jetzt aufwachen und mitgestalten. Denn wie wir die Technologie nutzen wollen, ist eine gesellschaftliche Frage. Es ist peinlich, dass die Wissenschaft uns und vor allem die Politik daran erinnern muss.
von Eva Wolfangel