Technology Review 5/2015 (Auszug)
Kritiker warnen, dass digitale Technololgien unsere Intelligenz beeinträchtigen. Doch jetzt zeigen Studien, dass die neuen Medien ganz neue Lernformen ermöglichen und unsere kognitiven Möglichkeiten steigern können.
Ein Schulhof am Rande von Panama-City: Ein Junge kauert unter einem Baum, ein Smartphone in der Hand, ein Englischschulbuch auf den Knien. Aus dem Handy ertönt die Stimme seines Lehrers. Dieser liest den englischen Text aus dem Buch vor. Der Junge lauscht konzentriert. Dann spricht er dem Lehrer nach. Schließlich nimmt er seine Stimme ebenfalls auf und spielt seine Aufnahme und die des Lehrers abwechselnd ab. Unter diesem Baum auf einem panamaischen Pausenhof ist ein modernes Sprachlabor entstanden. Mit denkbar einfachen Mitteln.
Das Experiment hat die panamaische Informatikerin Elba Del Carmen Valderrama durchgeführt. Sie verteilte günstige Smartphones an Schulen ohne spezielle Lernsoftware. Ihre Idee: In Schwellenländern fehlen an Schulen häufig alle technischen Möglichkeiten vom Drucker bis zum Videobeamer um den Unterricht zu bereichern. Was würden also die Schüler und Lehrer mit den Handys machen? Innerhalb weniger Tage fungierten die Geräte als Kopierer und Sprachlabor, die Schüler erledigten darauf Hausaufgaben und sendeten sie an die Lehrer, sie drehten Lernvideos und protokollierten den Unterricht. Sie lernten enthusiastisch.
Valderramas Ergebnisse sind kein Einzelfall. Ähnliche Erfahrungen machte auch Nicholas Negroponte, als er mit seiner Initiative „One Laptop per child“ zwei abgelegene äthiopische Dörfer mit Laptops versorgte: jedes Kind bekam ohne jede Anleitung einen Computer inklusive Solar-Ladeeinheit mit einigen vorinstallierten Apps. Schon nach wenigen Minuten hatten die Kinder, die keine Schule besuchen und weder lesen noch schreiben können, den Einschaltknopf gefunden. Nach fünf Tagen hatten sie alle Apps ausprobiert, wie die Auswertung der Sim-Karten ergab. Nach zwei Wochen sangen die Kinder ein Alphabetlied, die ersten begannen zu schreiben. „Nach fünf Monaten hatten sie Android gehackt“, berichtet Negroponte: die Kamera der Geräte sei versehentlich ausgeschaltet gewesen. Die Kinder hatten sie entdeckt, ein Programm umgeschrieben und sie zum Laufen gebracht.
Nicht nur Schulen in Schwellenländern profitieren von digitalen Medien. Die Geräte bringen auch in der westlichen Welt ganz neue Lernformate mit sich. Sie machen Prozesse sichtbar, vereinfachen natürliches Lernen und zeigen uns, wie wir Inhalte am besten vermitteln. „Der Mensch lernt dadurch effizienter und kann Vorgänge tiefer verstehen und einordnen“, sagt Ulrike Cress, stellvertretende Direktorin des Leibniz-Instituts für Wissensmedien in Tübingen. Immer mehr Erkenntnisse zeigen: wenn man sie richtig einsetzt, haben digitale Medien das Potential, unsere kognitiven Fähigkeiten zu steigern.
Die äthiopischen Kinder aus dem „One laptop per child“-Projekt haben per Zufall eine Lernmethode entdeckt, die sich in der modernen Pädagogik gerade etabliert und die Bildung verändern dürfte. „Lernen ist ein Konstruktionsprozess“, sagt Cress. Wer sich Dinge aktiv erarbeitet, lernt nachhaltig. Klassischer Frontalunterricht oder das Auswendiglernen aus dem Schulbuch ist wenig effizient: die Inhalte sind oft schnell wieder vergessen. „Digitales Lernen ist flexibler: es nutzt verschiedene Sinne und erlaubt die Wissenskonstruktion“, sagt Cress.
Die Psychologin, die Web-basiertes Lernen in vielen Projekten untersucht hat, beschreibt ein Beispiel, wie es in anderen Ländern schon üblich ist: Kinder bekommen etwa die Aufgabe herauszufinden, wieso ein Fugzeug fliegt. Sie teilen ihre Ideen und Recherchen über vernetzte Computer. Sie fragen Eltern, Lehrer, Piloten im Bekanntenkreis, googeln und lesen in Lexika nach. Sie diskutieren beispielsweise in einem Chat, welcher Weg wohl in die richtige Richtung führt und protokollieren ihre Ergebnisse gemeinsam.
Eine intelligente Software kann diesen Prozess zusätzlich reflektieren und – ergänzend zur Beobachtung der Lehrer – sichtbar machen: sie zeigt, wer sich viel und wer sich wenig an der Diskussion beteiligt, sie analysiert, welche Lösungen mehr Feedback bekommen, welche Recherchewege in einer Sackgasse enden. Diese so genannten „awareness tools“ – zu Deutsch etwa Aufmerksamkeits-Hilfen – helfen einer Gruppe zu lernen, sie unterstützen eine Art Schwarmintelligenz. Der Lehrer bekommt in so einem Prozess eine ganz andere Rolle: er sagt nicht, was richtig und falsch ist, er gibt keine Lösungen vor. Er moderiert, beantwortet Fragen, hilft vielleicht beim Zusammenfassen. (...) Damit Lernen nicht frustrierend ist, sei es hilfreich, es wie das Programmieren zu betrachten, sagt Nicholas Negroponte: „Programme funktionieren fast nie auf Anhieb; wenn sie dann endlich laufen, muss man schauen, was falsch ist, um dann den Code zu ändern und wieder ausprobieren“, sagt er. Auch beim Lernen gäbe es diese schrittweise Annäherung an die Lösung – Versuch und Irrtum inbegriffen. Die Initiatoren der ersten Online-Universität „Udacity“ aus dem kalifornischen Mountain View kennen und nutzen diesen Effekt ebenfalls. Dort gibt es keine Hausarbeiten, sondern Projekte, in denen Studierende beispielsweise ein Programm entwerfen müssen. „Bei uns ist es normal, beim ersten Versuch zu scheitern“, sagt Vizepräsidentin Kathleen Mullaney, „denn nur so wird man besser.“ Der deutsche Informatiker Sebastian Thrun, Professor an der Stanford University, hat Udacity mit dem hochgesteckten Ziel gegründet, die Universitätslandschaft zu revolutionieren. Einfach nur Vorlesungen ins Netz zu stellen, das gehe an den Bedürfnissen der Studierenden vorbei. Bei Udacity gibt es folglich auch keinen Frontalunterricht, kein stundenlanges Büffeln von Theorie. In den Online-Kursen werde maximal eine Minute am Stück gelesen, dann kommt eine praktische Aufgabe oder ein Quiz. Immer wieder bilden sich Arbeitsgruppen, die gemeinsam ein Projekt bearbeiten – egal, wo auf der Welt die einzelnen Teilnehmer sitzen. „Wer effektiv lernen will, muss aktiv und engagiert sein“, sagt Mullaney.
Digitales Lernen geht also weit über das hinaus, was wir mit dem Begriff E-Learning verbinden. Denn dieser meint meist ein digitales Abbild des Frontalunterrichts und verzichtet auf all die Vorteile der Technologie. Es geht auch lange nicht mehr um die Frage, ob wir Inhalte besser aufnehmen, wenn wir sie auf Papier oder auf einem Bildschirm präsentiert bekommen. Zu dieser Frage gibt es unzählige, sich widersprechende Studien. Auf welchem Medium wir besser lesen, ist ein Randaspekt beim Thema Bildung – und obendrein Gewohnheitssache, was viele Studien mit kleinen Probandenzahlen verfälscht.
Auch die vor einigen Jahren stark in Mode gekommenen „MOOCs“ abgekürzten „Massive Open Online Courses“ bringen keine Revolution in der Bildung mit sich. Sie arbeiten meist mit klassischen Lehrmethoden, der einzige Unterschied: der digitale Hörsaal ist offen auch für jene, die normalerweise keinen Zugang zu höherer Bildung haben. „Eins ist freilich neu und aufregend an den MOOCs“, schreiben die Big- Data-Experten Viktor Mayer-Schönberger und Kenneth Cukier in ihrem Buch „Lernen mit Bigdata – Die Zukunft der Bildung“: „Die Daten, die sie erzeugen.“ Diese zeigen, wie Menschen lernen, welche Methoden effektiv sind, wie der Stoff aufgebaut sein muss. „Diese Dinge konnten wir bislang nicht wissen, da uns das richtige Werkzeug fehlte.“
Dieses Feedback nutzt auch Udacity zum kontinuierlichen Verbessern des Angebots. „Wir werten bei jedem Quiz die Zeit aus, die jemand braucht, um es zu lösen“, erklärt Kathleen. An klassischen Universitäten wird maximal ein Mal pro Semester ein Fragebogen zur Qualität des Unterrichts verteilt. „Wir haben das Wissen, wie Studenten derzeit am erfolgreichsten lernen“, behauptet Thrun vollmundig in einem Interview.
Wenn die Gründung von Udacity eine Revolution in der Universitätslandschaft ist, wie Thrun behauptet, dann kann die sinnvolle Auswertung von massenhaften Daten unsere bisherigen Vorstellungen von Bildung auf den Kopf stellen – oder auf die Füße. Denn dann könnten Bildungsstätten nicht mehr als der Ort gesehen werden, an dem der Stoff auf die Menschen heruntergeladen wird wie auf eine Computerfestplatte, sagt Viktor Mayer-Schönberger, Professor am Oxford Internet Institute, sondern als sozialer Ort der Auseinandersetzung. Er nennt das „flipped classrooms“ – umgekehrte Klassenzimmer. Was bisher in der Schule stattfand, können Kinder Zuhause erledigen: Frontalunterricht, und zwar per Video. „Die Kinder können auf dem Tablet das gesamte Wissen Zuhause haben.“ Die gemeinsame Zeit in der Schule werde dann für das eigentliche Lernen genutzt, das bisher häufig Zuhause stattfindet. Im flipped classroom aber in Form von sozialem Lernen, dem gemeinsamen Austausch über den Stoff. Der Lehrer kann den Unterricht an den Stand seiner Schüler anpassen. Dank Datenanalyse einer Lese-App weiß er dann beispielsweise, welches Kapitel sie nur überflogen haben oder an welche Stelle sie immer wieder zurückkehrten: hier scheint etwas besonders schwer verständlich gewesen zu sein.
Vielleicht kommt der Lehrer sogar darauf, dass seine Reihenfolge, etwas zu vermitteln, nicht ankommt. So wie die Entwickler der Sprachlern-App Duolingo, die auf der Grundlage von Daten Millionen Lernender wissen, wie Menschen Fremdsprachen lernen. So taten sich Spanier schwer, das Konzept von „he, she, it“ im Englischen zu verstehen. Das grammatikalische Konzept ist ihnen fremd, da es im Spanischen kein „es“ gibt. Offenbar überforderte es die Lernenden, dass dieses für sie komplexe Konzept relativ früh eingeführt wurde. Die App-Entwickler packten die Lektion kurzerhand einige Einheiten weiter nach hinten – und siehe da: die Spanier sie wesentlich schneller als vorher.
Solche Möglichkeiten führen zu neuen Ansätzen wie den von Kai Kunze, Assistant Professor am Institut für Computerwissenschaften der Universität Osaka in Japan. Der Computerwissenschaftler beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern elektronische Lesegeräte anhand aller Informationen, die sie bekommen können, Lernen effizienter machen können. So erkennen E-Reader im Labor schon heute sehr zuverlässig mittels Eyetracking, an welchen Stellen eines Textes ein Leser hängenbleibt oder welche er überfliegt.
Zusammen mit dem Hintergrundwissen, welche Werke der Nutzer schon gelesen hat, kann intelligente Software auf die Bedürfnisse jedes einzelnen reagieren: „Personalisiertes Lernen wird hier richtig interessant“, sagt Kunze. So könnten Definitionen oder Erklärungen eingeblendet werden, wenn der Leser offenbar etwas nicht versteht, oder ganze Passagen ausgeblendet, deren Inhalt der Nutzer schon kennt. Über die Zeit kann ein Gerät auch ermitteln, wann sein Nutzer konzentriert lernt und wann er eher abschweift und Empfehlungen geben, welche Tageszeiten gute Lernphasen sein könnten.
Während es bisher aufwendig oder gar unmöglich war, solche Daten zu heben, bekommen wir sie mittels digitalen Lernens quasi geschenkt. „Wichtig ist dabei, dass wir die Daten nicht dazu verwenden, den Menschen dem System anzupassen“, sagt Mayer-Schönberger. Beispielsweise dürfte anhand ihrer nicht entschieden werden, welcher Schüler welche Karriere einschlagen dürfe. Das System kann dank der Daten an den Menschen und seine Art zu lernen angepasst werden. Er kommt damit zu einem ähnlichen Schluss wie die meisten Experten, die in diesem Text zu Wort kommen: Richtig verwendet verbessern die neuen technologischen Möglichkeiten unsere Lernqualität. Wir wären dumm, darauf zu verzichten.
von Eva Wolfangel