spektrum.de, 7. Januar 2015 - Link
Forscher tüfteln bereits eifrig daran, dass sich in Zukunft kein Mensch mehr selbst hinter das Steuer seines Wagens setzen muss. Doch eine Probefahrt mit einem selbstfahrenden Auto zeigt ein grundlegendes Problem der modernen Technik auf: Sie macht uns zum ohnmächtigen Beifahrer – und das ertragen wir Menschen nur schwer.
Noch parkt das Wunderwerk der Technik, mit dem ich gleich durch Ulm kurven werde, auf dem Gelände der Universität. Äußerlich ist nicht zu erkennen, dass unter dem Blech die Zukunft des Automobilbaus verborgen liegt: Es ist eines der ersten Autos, das autonom durch eine deutsche Innenstadt fährt.
Vor mir steht eine ganz normale E-Klasse von Mercedes. Zumindest auf den ersten Blick. Auf den zweiten erkenne ich eine runde Antenne auf dem Dach und ein Kabel, das aus dem Kofferraum hängt, in einer Garage verschwindet und so die Computer im Heck mit Strom versorgt. Die Bezeichnung "autonom" ist eigentlich nicht ganz richtig, erklärt mir Jürgen Wiest, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Mess-, Regel- und Mikrotechnik der Uni Ulm: "Hochautomatisiert wäre korrekter, denn in der Fachwelt gilt ein Auto erst dann als autonom, wenn kein Mensch es mehr überwachen muss." Aber so weit ist die Technik noch nicht.
Der Wagen kann zwar ohne menschliche Hilfe fahren, aber die Sicherheitsbestimmungen erfordern es dennoch, dass der Fahrer in bestimmten Situationen eingreift und das Steuer wieder übernimmt. Schließlich sind Innenstädte Neuland für autonome Fahrzeuge, der Verkehr ist viel komplexer als beispielsweise auf der Landstraße oder der Autobahn. So stoppt das Auto zwar selbstständig vor jedem Zebrastreifen oder wenn Personen die Fahrbahn kreuzen. Doch es rollt erst wieder an, wenn ein Mensch die Weiterfahrt genehmigt. Das Fahrzeug darf auch keine Vollbremsungen machen, nicht zu schnell durch enge Kurven fahren, keine Linienbusse überholen und muss an den Fahrer übergeben, wenn es eine Situation nicht sicher beherrscht. Dafür darf es bis zu 130 Stundenkilometer schnell fahren, abgesegnet vom TÜV Süd, der das Sicherheitskonzept mit entwickelt hat.
So weit die Theorie. Kurz nach zehn Uhr an diesem Mittwochvormittag zieht Felix Kunz von der Uni Ulm den Stecker aus der Dose, verstaut das Kabel im Kofferraum und klappt die Rücksitze der umgerüsteten E-Klasse nach vorne. Der Anblick des Kabelsalats zwischen brummenden Rechnern erinnert mich an ein Foto vom Inneren der Raumstation ISS, das mich einst ebenfalls verblüffte: Muss Hochtechnik immer chaotisch aussehen?
Gretchenfrage: Wie hast du es mit der Technik?
Vor dem Start steht die Gretchenfrage: Wie hast du es mit der Technik? Wie oft wird mein Fuß wohl zucken und bremsen wollen? Wir steigen ein, und Felix Kunz steuert das Auto manuell auf die Straße. Er ist einer von drei zugelassenen Sicherheitsfahrern. Dann stoppt er, schaltet den automatisierten Modus ein und nimmt die Hände vom Lenkrad. Er hält sie einige Zentimeter darüber in der Luft, bereit, jederzeit einzugreifen. Ich warte auf den großen Moment, dieses berühmte Fahren "wie von Geisterhand", mit dem Kollegen solche Erlebnisse gerne beschreiben.
Doch das Auto fährt normal an. Nichts fühlt sich auffällig an. Wir starten auf die einprogrammierte Probestrecke, die an den Gebäuden der Universität, am Bundeswehrkrankenhaus sowie am Uniklinikum vorbei und ein kleines Stück über die Landstraße führt. Auf einem Monitor in der Mittelkonsole wird die so genannte Landmarkenkarte angezeigt: Das Auto kennt auf dieser Strecke jeden Baum, jedes Haus, jeden Streifen auf der Fahrbahn und orientiert sich daran. Dazu kommen die Infos der Kamera und der Sensoren, die unter anderem Straßenmarkierungen und Ampeln erkennen und damit den aktuellen Standort verifizieren. Aus dieser Datenmasse berechnet das System in Echtzeit, wie es fahren muss. Würde an der Strecke ein Baum gefällt, wäre es allerdings verwirrt.
Die ersten paar hundert Meter sind langweilig. Kein Fußgänger läuft auf die Straße, kein Auto hält vor uns, alles fühlt sich an wie eine ganz normale Autofahrt. Meine Gedanken schweifen ab. Ein übliches Phänomen, erfahre ich später von Ingo Totzke, Psychologe am Würzburger Institut für Verkehrswissenschaften: Je mehr Arbeit die Maschinen uns abnehmen, umso schwerer fällt es uns, sie zu überwachen. Dinge, die ohne unser Zutun funktionieren, beanspruchen unser Gehirn so wenig, dass es sich andere Aufgaben sucht. In der Übergangsphase vom teilweise autonom fahrenden Auto zum sich völlig selbstständig bewegenden Fahrzeug ist das nicht ganz ungefährlich.
Plötzliche Bremsmanöver
Vor diesem Hintergrund sind die Zebrastreifen ein Segen, die hin und wieder dafür sorgen, dass Sicherheitsfahrer Felix Kunz wachsam bleibt. Und der Linienbus, der uns in einer Kurve gefährlich nahe entgegenkommt. Reflexartig greift Kunz ins Lenkrad und steuert ein wenig mehr in die Außenkurve. "Wenn dieses Auto kaputtgeht, haben wir sehr viel Arbeit damit", sagt er entschuldigend. Deshalb könne er seine Reflexe hier kaum unterdrücken. Obwohl er eigentlich weiß, dass das Auto diese Situation beherrscht.
Nach fünf Minuten haben wir die letzten Gebäude der Universität hinter uns gelassen und fahren Richtung Uniklinikum. Auf der geraden Fahrbahn des Berliner Rings beschleunigt das Auto auf 70 Stundenkilometer – und bremst plötzlich. Fragend schaue ich zu Felix Kunz. Nirgends ist ein Hindernis zu sehen, kein Fahrzeug, kein Fußgänger. Kurz vor einer großen Pfütze gibt das Auto erneut Gas. So stark, dass es mich in den Sitz drückt. Eine Maßnahme gegen die Langeweile? "Ein bekanntes Problem", erklärt mir Experte Jürgen Wiest später. Wenn es stark geregnet hat, reflektieren die Pfützen auf der Fahrbahn so sehr, dass die Laserscanner ein Hindernis vermuten und das Auto abbremsen. Kurz vor der Pfütze löst sich die Spiegelung durch den veränderten Winkel zwischen Laserstrahl und Wasser auf, so dass das System den Wagen wieder auf die zugelassene Geschwindigkeit beschleunigt. Kein Sicherheitsproblem also. Nur ungewöhnlich.
Künftig jedoch werden wir uns wohl damit arrangieren müssen, dass Maschinen bestimmen, wann eine Situation kritisch ist. Schon dass sich ein Fahrzeug penibel an die Verkehrsregeln hält, fühle sich ungewöhnlich an, meint Psychologe Totzke. Tatsächlich wurde das Ulmer Versuchsfahrzeug anfangs häufig angehupt, wenn es langsam an Ampeln anfuhr oder in den Augen der anderen Fahrer einen zu großen Sicherheitsabstand einhielt. Mittlerweile kennen viele Einwohner der baden-württembergischen Stadt am Rande der Schwäbischen Alb den Mercedes mit der auffälligen GPS-Antenne auf dem Dach und verzichten auf lautstarke Unmutsbekundungen.
"Die Ampel ist grün!", möchte ich rufen
Langsam fahren wir anschließend auf eine grüne Ampel zu. Normalerweise würde ich jetzt beschleunigen. Doch ich sitze nicht am Steuer und der Computer entscheidet sich anders. Gleich bleibend gemächlich rollt der Wagen weiter. "Die Ampel ist grün!", möchte ich rufen. Als wir die Kreuzung endlich erreichen, zeigt die Ampel Rot. Ich fühle mich wie ein Sonntagsfahrer.
Wenn das Auto selbst fährt, werden alle Insassen zu Beifahren. Erstaunlich, wie schwierig es ist, einfach nur zuzuschauen – bei aller Bewunderung für die Technik. "Assistenz nimmt den Fahrspaß", erklärt der Psychologe Ingo Totzke. Zunächst hatte ich meine Zweifel daran. Fahren muss doch keinen Spaß machen. Jetzt merke ich: Solange ich mit dem Kopf dabei bleiben muss, brauche ich Spaß, Abwechslung. "Es wird immer Situationen geben, in denen man selbst fahren will", sagt auch Martin Baumann, Psychologe an der Uni Ulm. Mag sein, dass es sich in Zukunft wunderbar arbeiten lässt, wenn das Auto gleichmäßig fährt und nicht mehr überwacht werden muss. Wenn die Reise dem Zugfahren ähnelt. Wenn wir nicht mehr aufpassen müssen. Aber das liegt noch in weiter Ferne. Manche Wissenschaftler zweifeln sogar daran, dass es je so weit kommen wird.
Zwölf Minuten sind wir nun schon unterwegs, haben seit dem Start etwa vier Kilometer unbeschadet überstanden. Wir nähern uns dem Uniklinikum und rollen ebenfalls gewöhnungsbedürftig langsam auf einen der vielen Zebrastreifen auf dem Areal zu. Besuchszeit, viele Menschen kreuzen die Straße. Ein Lieferwagen am Straßenrand blinkt, der Fahrer möchte ausparken. Wenn wir schon so langsam fahren, hätten wir ihn problemlos rangieren und vor uns einordnen lassen können. Aber Höflichkeit – diese Kategorie kennt die Maschine nicht.
Schau mir in den Scheinwerfer, Kleines!
Das "Sozialverhalten" eines Computers wird uns noch lange seltsam vorkommen. Martin Baumann kennt diese Irritation gut: "Wie kann man das Verhalten eines autonomen Fahrzeuges an die Außenwelt kommunizieren?", fragt er. Der Psychologe forscht in der Abteilung "Human Factors" der Ulmer Fakultät für Ingenieurwissenschaften und Informatik und sucht Antworten auf solche Fragen. Und wie bringen wir eigentlich unseren Kindern in Zukunft bei, wie sie über einen Zebrastreifen gehen sollen? Bisher galt: "Schau dem Fahrer in die Augen, ob er dich sieht!" Aber der Fahrer eines autonomen Autos wird mit etwas anderem beschäftigt sein. Baumann überprüft unter anderem, ob eventuell die Scheinwerfer ein Ersatz für die Augen sein und den Fußgängern ein Zeichen geben könnten, dass sie gesehen wurden.
Kurz vor Schluss erwartet uns die letzte Herausforderung: ein Linienbus im Kreisverkehr. Das Auto registriert ihn und hält an, bevor es hineinfährt. Doch es kann nicht erkennen, dass der Bus blinkt und in unsere Straße einbiegen möchte. Es wartet stur, bis der Kreisverkehr ganz frei ist – so verlangt es der Algorithmus. Aber die Straße ist eng, der Busfahrer kommt nicht um die Kurve und winkt aus dem Fenster: Wir sollen vorfahren. Das Auto bleibt stehen. Winken ist dem System unbekannt. "An der Gestenerkennung werden wir noch mindestens zehn Jahre arbeiten", sagt Jürgen Wiest später. Felix Kunz erlöst uns und den ungeduldigen Busfahrer: Er schaltet um auf manuelles Fahren.
"Haben Sie sich sicher gefühlt?", fragt Jürgen Wiest mich schließlich, als er mir zurück an der Uni die Tür aufhält. Ja, keine Frage. Sehr sicher sogar. Kein einziges Mal hätte ich bremsen wollen. Eher Gas geben.
von Eva Wolfangel