spektrum.de, 12. September 2014 - Link
Moderne Technologie soll den Verkehr der Zukunft vom Stau befreien. Das könnte aber auch nach hinten losgehen.
Samstag, 27. August 2039: Familie Maier ist auf dem Weg in den Urlaub nach Italien. Auf der österreichischen Tauernautobahn, einer der wichtigsten Nord-Süd-Verbindungen über die Alpen, fahren die Autos dicht an dicht. Ferienzeit. Das Nadelöhr ist das gleiche wie vor 25 Jahren. Und doch ist alles anders: Frau Maier sitzt am Steuer und liest Zeitung. Auch die anderen Menschen auf den Fahrersitzen telefonieren, lesen oder essen – Beschäftigungen, die früher katastrophale Konsequenzen gehabt hätten. Aber fast vierzig Jahre nach der Jahrtausendwende müssen die Menschen nicht mehr lenken, beschleunigen und bremsen. Ihre Autos fahren autonom. Computer vergleichen Daten über Ziele, Straßenverlauf und Geschwindigkeiten, berechnen das optimale Tempo und wählen die passenden Routen. Sensoren registrieren Hindernisse, die Fahrzeuge untereinander tauschen sich aus, wann welches abbiegt und wann hunderte Meter weiter vorne ein Wagen bremst. Staus entstehen auf diese Weise gar nicht erst.
Was im Jahr 2014 noch an Science-Fiction erinnert, könnte bald Wirklichkeit werden.
Schon jetzt sorgt intelligente Technik dafür, dass der Verkehr besser fließt – unabhängig von der Ausstattung des jeweiligen Fahrzeuges. Zahlreiche Autobahnabschnitte sind mit so genannten Streckenbeeinflussungsanlagen ausgestattet: Induktionsschleifen auf dem Asphalt messen Tempo und Fahrzeugabstand und erkennen so einen drohenden Stau. Aus diesen Daten berechnen Computer die passende Geschwindigkeit, die den Fahren auf elektronischen Tafeln angezeigt wird. Bei sehr dichtem Verkehr habe sich Tempo 80 bewährt, erklärt Silja Hoffmann, Verkehrswissenschaftlerin der TU München: „Damit bekommt man die meisten Fahrzeuge über den Querschnitt, sie müssen nur wenig Abstand halten und das Tempo harmoniert mit dem der LKW.“ Forschungen des Bundesverkehrsministeriums ergaben, dass mit intelligenten Schilderbrücken Unfälle um etwa 30 Prozent reduziert werden.
Der Haken dabei: Nur ein kleiner Teil des deutschen Straßennetzes ist mit Detektoren und Schleifen ausgestattet, hauptsächlich Autobahnabschnitte mit hoher Staugefahr. Ein Großteil der Landstraßen hingegen wird nicht überwacht. Staus werden dort nur für denjenigen wahrnehmbar, der gerade darin steht – und der dort häufig durch eine Umleitungsempfehlung seines Navis gelandet ist. Denn auch deren Daten beruhen hauptsächlich auf den Informationen der zentralen Verkehrsüberwachung. Nur wenige Hersteller werten die Standortdaten ihrer Geräte aus: Diese Navis senden - wenn der Nutzer zustimmt - regelmäßig ihren Standort und ihre Geschwindigkeit an eine Zentrale. Bei hinreichender Datendichte wird die Stauerkennung zum Kinderspiel. Auch wer mit Googlemaps navigiert, bekommt Staus in Echtzeit aufs Display – und trägt gleichzeitig dazu bei, dass Googles Daten immer perfekter werden: Android-Handys melden regelmäßig ihren Standort an den Konzern.
Optimierte Fahrerführung
Einen Schritt weiter sind Experten der Technischen Universitäten München und Berlin, der Fraunhofer Gesellschaft, des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz und anderen Forschungsinstituten. Gemeinsam mit Fahrzeugherstellern entwickelten sie das System simTD und rüsteten damit 500 Versuchsfahrzeuge aus, die im vergangenen Jahr insgesamt 1,6 Millionen Kilometer zurücklegten. Die rollenden Labore tauschten nicht nur untereinander Daten aus, sondern auch mit der Infrastruktur, beispielsweise mit Ampeln. Die Fahrer bekamen auf einem Display Vorschläge für die aktuell günstigste Route oder die optimale Geschwindigkeit für eine grüne Welle.
Die Forscher simulierten auch, wie sich der Verkehr entwickelt, wenn ein bestimmter Prozentsatz mit der Technologie ausgestattet wäre. Bestückt man alle Fahrzeuge damit, würde mehr als die Hälfte aller Unfälle in Kreuzungsbereichen vermieden, so die Wissenschaftler: Bis zu 6,5 Milliarden Euro volkswirtschaftlicher Kosten könnten allein in Deutschland dadurch eingespart werden.
Unklar ist allerdings, wie diese Datenmassen, die bei der Kommunikation zwischen Fahrzeugen entstehen, künftig verarbeitet werden. Denn das Auto der Zukunft bekommt nicht nur Informationen, sondern muss daraus Alternativen ableiten, beispielsweise: Wie kommen alle möglichst schnell über die Kreuzung? Noch fehlt es an leistungsfähigen Algorithmen, die solche Entscheidung in Echtzeit treffen können. Unbeantwortet ist bislang auch die Frage, ob das innerhalb der Fahrzeuge oder an einem zentralen Ort geschieht.
Transponder auch für Fußgänger
Außerdem müssen Sicherheitsaspekte geklärt werden: Ein solches System darf nicht von Hackern manipuliert werden können. „Das vollautonome Auto für den privaten Gebrauch liegt noch in weiter Ferne“, sagt Dominique Seydel vom Fraunhofer-Institut für Eingebettete Systeme und Kommunikationstechnik. Dazu müssten die bestehenden Fahrerassistenzsysteme schrittweise erweitert werden, so dass sie verstärkt externe Daten nutzen können. Diese fließen künftig in ein Infotainmentsystem ein. Momentan entwickeln die Forscher einen Sprachkanal, eine Art W-LAN für den Verkehr. Der Standard namens ITSG5 soll weltweit gelten. Eine einheitliche Sprache ist wichtig, denn ein solches Assitenzsystem kann künftig auf immer mehr Informationsquellen zurückgreifen. So könnte man Fußgänger mit kleinen Transpondern ausstatten: „Ein Fahrzeug erkennt dann, wenn ein Kind auf die Straße rennt, noch bevor der Fahrer es sieht“, sagt Seydel. Auch Smartphones könnten einbezogen werden. Dann hätten nahezu alle Verkehrsteilnehmer die Chance, erkannt zu werden, ohne zusätzliche Geräte tragen zu müssen.
Denn das ist eine der großen Fragen: Wie gehen automatische Systeme mit Fußgängern, Radfahrern oder nicht ausgestatteten Autos um? „Wir werden nie den Fall haben, dass sich alle Verkehrsteilnehmer austauschen“, sagt Christoph Stiller vom Karlsruher Institut für Technologie KIT. „Aber selbst wenn die überwiegende Mehrheit kommuniziert, werden wir bei gleicher Menge an Fahrzeugen sehr viel weniger Stau haben.“ Stiller koordiniert das Schwerpunktprogramm „Kooperativ interagierende Automobile“ der Deutsche Forschungsgesellschaft (DFG). Ziel des Projekts: Die einzelnen Forschungsgebiete bundesweitweit zu vernetzen und eine gemeinsame Simulationsumgebung aufzubauen. „Uns fehlen große Testdatensätze“, sagt Stiller.
Er hofft auf die Daten jener Fahrzeuge, die schon heute automatisch fahren – beispielsweise im Stop-and-Go-Verkehr. Bis zu einer Geschwindigkeit von 30 Kilometern pro Stunde ist das unter ständiger Aufsicht des Fahrers bereits erlaubt. Hier wird sich zeigen, wie gut die Technik kritische Situationen erkennt und meistert. Und wo nachgearbeitet werden muss.
Der Werbespot von Google, in dem ein Blinder als der Kunde Nr. 1 eines autonomen Fahrzeuges vorgestellt wird, entfacht in der Öffentlichkeit falsche Erwartungen, warnt Stiller: „Ein Blinder wird nicht der erste Kunde eines autonomen Fahrzeuges sein, sondern eher der Letzte.“ Denn Maschinen treffen zwar schon heute relativ gute Entscheidungen, aber das reicht nicht: „Ein Promille Fehlerrate gilt in der Wissenschaft als gut – aber im Straßenverkehr wäre das inakzeptabel. Damit würde etwa beim Fußgängerkollisionsschutz jeder Tausendste Fußgänger überfahren.“ Der Mensch wird noch lange eingreifen müssen, wenn das Auto eine Situation nicht beherrscht. Vor allem im komplexeren Verkehr der Innenstädte.
Computer versteht keine Gesten
Diese Erfahrung macht auch Klaus Dietmayer, Direktor des Instituts für Mess-, Regel- und Mikrotechnik der Universität Ulm. Er ließ im Juli 2014 ein Auto autonom durch die Ulmer Innenstadt fahren – stets mit einem Sicherheitsfahrer am Steuer. Ein ausgewählter Rundkurs wurde detailliert kartographiert und in das System eingespeist. Dazu kommen die Daten von Radar-, Laser- und Kamerasensoren, so dass das Auto Zebrastreifen, rote Ampeln und Fußgänger erkennen kann. Der Wagen meisterte seinen Rundkurs perfekt. Bis auf eine Ausnahme: Ein Fußgänger wollte das Auto vorbeiwinken. Aber das blieb stehen. „Gestenerkennung funktioniert noch nicht“, räumt Dietmayer ein, „daswird noch sehr viel Forschungsarbeit erfordern.“ Situationen, in denen Gesten und Mimik eine Rolle spielen und die Menschen intuitiv meist richtig einschätzen, stellen für Maschinen eine große Hürde dar. Frühestens in 20 bis 30 Jahren rechnen Forscher deshalb damit, dass autonome Autos auch in Innenstädten sicher funktionieren. Reine Autobahnfahrten hingegen werden schon bald möglich sein, so Dietmayer.
Aber die wachsende Rolle von Assistenzsystemen berge auch Gefahren, warnen Psychologen: Sie nehmen den Spaß am Fahren und senken damit die Aufmerksamkeit. Der Fahrer der näheren Zukunft muss sein Auto zumindest noch überwachen. „Genau das können Menschen eher schlecht“, warnt der Psychologe Ingo Totzke vom Würzburger Institut für Verkehrswissenschaften: „Prozesse über längere Zeit beobachten, ohne etwas zu tun.“ Darin liegt aus seiner Sicht die Gefahr der Systeme. Diese nehmen dem Fahrer zwar immer mehr Aufgaben ab, aber wenn der Rechner mit einer Situation überfordert ist, übergibt er die Handlungshoheit wieder an den Menschen. Innerhalb weniger Sekunden muss dieser dann richtig reagieren.
Sein Vorschlag: Assistenzsysteme entwickeln, die den Fahrspaß erhöhen und den Fahrer bei der Stange halten. In einer Studie ließ er Testfahrer 90 Minuten im Simulator auf der Autobahn fahren. Die Teilnehmer einer Gruppe fuhren ein Fahrzeug, dessen Geschwindigkeits- und Abstandshaltung von einem Assistenzsystem übernommen wurde, und musste lediglich das System überwachen. Die Mitglieder des anderen Teams durfen hin und wieder stark bremsen und stark beschleunigen. Die zweite Gruppe war nach dem Versuch glücklich und entspannt, die erste erklärte dem Wissenschaftler, es sei schrecklich langweilig und dadurch anstrengend gewesen. Totzke wurde für solche Ergebnisse häufig kritisiert. Beim Fahren gehe es nicht um Spaß, sondern um Sicherheit, lautete ein Einwand. „Assistenz und Automation sind nicht per se perfekte Lösungen“, hält Totzke dagegen. Seine Studien haben ergeben, dass viele Fahrer aktuell nicht bereit seien, die komplette Verantwortung an ein System zu übergeben. Das wird sich vielleicht mit der weiter entwickelten Technologie ändern. „Aber es wird harte Arbeit werden, die Menschen davon zu überzeugen“, prophezeit der Psychologe.
Nie wieder Stau wäre sicher ein gutes Argument. Aber können das die Autos der Zukunft garantieren? Nein, meint die Verkehrswissenschaftlerin Silja Hoffmann: „Peaks bleiben Peaks. Es ergibt keinen Sinn, Systeme auf Peaks hin auszulegen.“ Autonome Autos erhöhen zwar die Straßenkapazität, ergänzt KIT-Forscher Stiller: „Aber irgendwann wird auf jeder Straße die Menge an Autos erreicht, bei der Stau entsteht.“ Zumal die Technologie das Auto womöglich wieder attraktiver macht.
Vielleicht sieht der Feriensamstag im Sommer 2039 auch so aus: Der Verkehr auf der Tauernautobahn kommt zum Erliegen. „Error“ melden die Bordcomputer der autonomen Autos. Diese Aufgabe ist nicht zu lösen. Zu viele wollen durch das Nadelöhr. 24 Stunden steht Familie Maier im Stau. Der Vater nutzt die Zeit, um im Internet nach Oldtimern zu recherchieren, bei denen man noch selbst fahren muss. Im nächsten Jahr wird er die Passstraße nehmen, die nur für Selbstfahrer zugelassen ist.
von Eva Wolfangel