spektrum.de, 22. Oktober 2013 - Link
Beenden Laptop, Tablet und E-Reader die Ära der gedruckten Bücher? Wissenschaftler streiten, wie sich elektronische Medien auf unser Leseverhalten auswirken. Studien zeigen: Bei wirklich wichtiger Lektüre wollen Leser weiter Papierseiten umblättern. Noch. Denn Informatiker und Medienwissenschaftler haben weit reichende Visionen, wie die Technologie das Lesen in Zukunft verändern wird.
Wer kennt das nicht: Auf der Suche nach Informationen surfen wir durchs Netz, lesen schnell die aktuellen Schlagzeilen, lassen uns Studien, Aufsätze oder Fachtexte per E-Mail schicken und überfliegen sie am Bildschirm. Aber wenn uns ein Inhalt wichtig erscheint, drucken wir die Dokumente aus, unterstreichen zentrale Passagen und legen die Blätter einem Kollegen auf den Tisch. Das papierlose Büro ist ein Mythos. Bis heute. Und selbst der wissenschaftliche Nachwuchs, normalerweise Vorreiter, wenn es darum geht, neue Technologien zu nutzen, liebt anscheinend die gute alte Zettelwirtschaft.
Die Studenten der Nationalen Universität Taiwan beispielsweise. Im Jahr 2011 wurden sie zu ihrem Leseverhalten befragt. Sie würden einen Text zunächst online überfliegen, um ihn dann für ein besseres Verständnis auszudrucken, erklärten die Jungakademiker mehrheitlich. Nicht immer sind die Untersuchungen so eindeutig. Teilweise streiten die Forscher sehr emotional darüber, was sich leichter lesen lässt: Buchstaben aus Druckerschwärze oder solche aus Pixel.
Vieles deutet jedoch daraufhin: Wer gründlich lesen möchte, ist mit Printmedien wohl besser bedient. So fand Anne Mangen, Expertin für Leseforschung an der norwegischen Universität Starvanger, 2013 heraus, dass Studenten, die einen Text auf Papier lasen, einen Verständnis-Test besser bestanden als jene Hochschüler, die den Text als PDF-Datei auf dem Bildschirm vor sich sahen. „Man hat mehr freie Kapazitäten für das Textverständnis“, zitiert das Fachblatt Scientific American in seiner aktuellen Ausgabe die Studienleiterin. Untersuchungen aus den USA kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Scrollen oder klicken benötigt offenbar mehr Aufmerksamkeit als das Blättern durch Papierstapel. Die zahlreichen Extras von Online-Texten – Verweise, Grafiken, Bilderstrecken oder Videos – verleiten viele Menschen zusätzlich zum oberflächlichen Lesen.
Lesen Ältere besser am Computer?
Doch das gilt nicht für alle Leser. Eine Studie der Universität Mainz ergab, dass ältere Menschen Texte auf Tablet-Computern viel leichter erfassen als gedruckte Inhalte. „Der kognitive Aufwand ist für die älteren Probanden geringer als auf der Papierseite“, begründet das die Linguistin Franziska Kretzschmar von der Uni Mainz. Zwar wurde diese Untersuchung vom Börsenverein des deutschen Buchhandels finanziert, einem Interessenverband von Verlagen und Händlern, die unter anderem E-Books vertreiben. Aber plausibel sind die Ergebnisse dennoch: Wer am Bildschirm liest, kann die Schriftgröße selbst bestimmen. Ein Vorteil für Menschen mit Sehproblemen.
Kinder, die an Leseschwäche leiden, profitieren ebenfalls von den Möglichkeiten elektronischer Geräte. Nach einer Studie der Harvard Universität, die kürzlich in der Online-Fachzeitschrift Plos One veröffentlicht wurde, konnten von 103 Probanden jene am schnellsten lesen, die den Text auf einem Monitor vor sich sahen. Zudem erfasste diese Gruppe inhaltlich mehr als die Printleser. Eine Erklärung: Kinder mit Leseschwäche kommen häufig mit kürzeren Zeilen besser zu recht. Auf Computern lässt sich die Zeilenlänge einstellen – in Büchern nicht. Studienleiter Matthew Schneps warnt jedoch vor einer vorschnellen Verallgemeinerung der Ergebnisse: Dyslexie habe verschiedene Ausprägungen und nicht bei jeder Variante dieser Beeinträchtigung helfe ein Bildschirm.
Trotz dieser Vorteile haben viele nach wie vor enorme Vorbehalte gegenüber dem elektronischen Lesen, insbesondere wenn es um Arbeits- und Lernsituationen geht. Das liegt vielleicht daran, dass Menschen einfacher lernen, wenn sie Dinge zum Anfassen haben. Das zumindest hat Eva Hornecker, Professorin für Mensch-Computer-Interaktion an der Bauhaus-Universität Weimar, beobachtet: Sie erforscht, wie man reale anfassbare Modelle und Objekte mit Computertechnik erweitern kann, um den Menschen das Lernen, das Begreifen eines neuen Stoffes zu erleichtern. „Haptik ist wichtig für das Lernen“, sagt sie. Am deutlichsten sieht man das bei Kindern: Mehrere Hundert Male müssen sie beispielsweise einen Gegenstand zu Boden fallen lassen, um die Schwerkraft zu verinnerlichen. Vielleicht ist das der Schlüssel dazu, wieso elektronische Texte vielen Menschen zu wenig greifbar sind.
Papier weckt Emotionen, Pixel sorgen für Effizienz
Aber nicht nur in der Schule, im Büro oder in der Uni lesen wir. In der Freizeit entspannen uns Romane oder Reportagen. Lange spielte der Computer dabei keine Rolle. Denn die graue Kiste erinnerte uns an Arbeit und wer Feierabend hatte, war froh, sie ausschalten zu können. Mit Computer oder Laptop aufs Sofa legen? Eine wenig vergnügliche Vorstellung. E-Reader und Tablet-PCs hingegen eignen sich für das gemütliche Schmökern. Bislang beträgt der Marktanteil bei E-Books in Deutschland allerdings nur zwei Prozent. In den USA sind es immerhin 20 Prozent.
Im Gegensatz zu Lern- und Arbeitssituationen gibt es bislang nur wenige wissenschaftliche Studien für den Freizeitbereich. Und die sind ernüchternd für die E-Book-Industrie: Nach wie vor bevorzugen viele Leser das gedruckte Buch, wie eine aktuelle Studie der Uni Nottingham in Zusammenarbeit mit Microsoft Research ergibt. Die Probanden nutzten gedruckte Bücher, sobald sie ihnen wichtig waren, digitale Bücher hingegen erschienen ihnen weniger wertvoll. Viele hatten das Gefühl, ein Buch als E-Book nicht tatsächlich zu besitzen, während sie zu Papier eine emotionale Bindung verspürten. Dazu kamen praktische Probleme: Beim E-Book lässt sich nicht jedes Dateiformat auf allen Geräten öffnen. Auch der Überblick über die eigene Bibliothek überforderte manche: Während ein Bücherregal Zuhause einer intuitiven Ordnung gehorcht, muss eine Menge an Dateien verwaltet und irgendwie geordnet werden. Die Autoren schlagen vor, dass es den Lesern ermöglicht werden sollte, eine Art Requisite für jedes elektronische Buch auszudrucken und in ihr Bücherregal zu stellen.
Hierzulande kämpfen die Leser mit ähnlichen Problemen. Eine Forschergruppe um Monique Janneck, Professorin am Fachbereich Elektrotechnik und Informatik der Fachhochschule Lübeck, ließ eine Woche lang elf Testpersonen Texte in Büchern, auf E-Readern und Tablets lesen. Danach erklärte die Mehrzahl der Leser, dass sie am liebsten gedruckte Bücher lesen würden. Zudem vermuteten die Versuchspersonen, dass sie auf Papier schneller lesen können. Das allerdings war ein Irrtum. „Unabhängig von ihrem persönlichen Lesetempo lasen sämtliche Testpersonen auf dem elektronischen Lesegerät Kindle am schnellsten“, schreiben die Autorinnen. Danach folgten zwei Tablet-Computer und erst dann das gedruckte Buch. Auffällig auch: Diejenigen Probanden mit den elektronischen Geräten lasen viel mehr als die Kontrollgruppe mit gedruckten Büchern. Dennoch verbanden die meisten Leser mit gedruckten Büchern Gemütlichkeit, sie bewerteten Haptik und Geruch von Papier positiv. Die Autorinnen gehen deshalb davon aus, „dass ein Siegeszug des E-Books über das gedruckte Buch kaum zu erwarten ist.“
E-Books imitieren echte Bücher zu sehr
Welche Konsequenzen ziehen Forscher aus solchen Ergebnissen? Auf keinen Fall sollten E-Books das Design von Druckwerken imitieren, meint Kai Kunze, Assistant Professor am Institut für Computerwissenschaften der Universität Osaka in Japan. Natürlich sei es sinnvoll, eine neue Technologie so einzuführen, dass sie dem analogen Gerät ähnle. Zumindest so lang, bis sich die Nutzer an die Umstellung gewöhnt hätten. Auch er druckt wissenschaftliche Papiere aus, um mit dem Stift Stellen zu markieren oder zu kommentieren. „Das ist mir digital zu umständlich“, gibt er zu. Zu sehr dürfe man aber Bücher nicht nachahmen wollen: „Man baut damit auch die Probleme mit ein“, sagt Kunze. Beispielsweise sei das Umblättern von Seiten unpraktisch, vorallem auf elektronischen Geräten: Man müsse immer warten, bis die Seite geladen ist, bevor man weiterlesen kann. Scrollen ermögliche dagegen unterbrechungsfreies Lesen.
Ob wir auf elektronischen Geräten tatsächlich effizienter lesen können – das untersucht Tilman Dingler vom Institut für Visualisierung der Universität Stuttgart. Speedreading heißt die Methode, auf der seine Forschungen beruhen. Dabei lernen die Teilnehmer schneller zu lesen, etwa indem sie die Zeilen mit Hilfe des Fingers oder eines Stiftes in kontinuierlichem Tempo überfliegen. Eine andere Variante des Speedreading besteht darin, mit einem Blick mehrere Wörter gleichzeitig zu erfassen, ohne diese bewusst einzeln zu lesen. Diese „Fixationen“, wie Dingler diesen Blick nennt, will er mit digitaler Hilfe verbessern. Derzeit entwickelt er eine App, die den Text – wie ein Stift – auf einem elektronischen Lesegerät in einem variablen Tempo markiert. Schnelleres Lesen verspreche auch mehr Spaß, vermutet Dingler. „Das Auge ist beim Lesen häufig zu langsam für das Gehirn, so dass man anfängt, an etwas anderes zu denken und abschweift.“ Wer schneller lese, bleibe eher bei der Sache. Die App will er nutzen um zu überprüfen, wie viel, wie häufig und wie schnell die Nutzer damit lesen – und ob sie sich verbessern.
Eyetracking analysiert unser Leseverhalten
Für künftige Anwendungen hat Dingler zudem die in den meisten Tablet-Computern vorhandene Kamera im Blick. Die Linse kann die Augenbewegungen verfolgen, ein Algorithmus daraus ableiten, an welchen Textstellen der Leser hängen bleibt, wann er sich nicht mehr konzentrieren kann und wie hoch seine Lesegeschwindigkeit ist – und individuell automatische Anpassungen vornehmen. „Wenn das Gerät den Text erfasst, könnte es beispielsweise eine Grafik einblenden, wenn der Leser abgelenkt ist“, erklärt Medieninformatiker Dingler. Denn ein Wechsel des Mediums fördere die Konzentrationsfähigkeit, wenn der Nutzer abschweift.
Die Tablet-Kamera will auch Computerwissenschaftler Kai Kunze nutzen. Seine Studien mit mobilen Eyetracking-Brillen ergaben, dass durch diese Aufzeichnung von Augenbewegungen beim Lesen die Zahl der gelesenen Wörter und die Art des Dokuments automatisch erkannt werden können: „Man kann beispielsweise unterscheiden, ob es sich bei dem Text um ein Comic, ein wissenschaftliches Papier oder einen Zeitungsartikel handelt“, erklärt Kunze. Ähnlich wie beim Schrittzähler könnten Leser mit dem von Kunze und seinen Kollegen entwickelten „Wordometer“ messen, wie viele Wörter sie an einem Tag gelesen haben und welche Art von Text. „Unter Freunden und Kollegen könnte eine Art Wettstreit entstehen.“ Das fördert die Bildung: Studien aus den Neurowissenschaften und der Wahrnehmungspsychologie haben ergeben, dass das Allgemeinwissen einer Person mit der Menge des Gelesenen steigt – und zwar unabhängig von Genre und Gattung.
Diese Daten können die Nutzer zudem über soziale Netzwerke mit Freunden und Bekannten teilen. Auch die Anbieter von E-Books interessieren sich für solche Informationen: Wo ist ein Leser ausgestiegen? Welche Passagen hat er in einem Rutsch gelesen? Amazon sammelt über den Kindle solche Daten schon heute. „Das könnte auch für den Autoren interessant sein“, vermutet Kunze. Sie könnten entsprechende Stellen, die den Lesern nicht gefallen, umschreiben, oder erkennen, ob ihr Spannungsbogen funktioniert. Die Kommentare anderer Leser können Kindle-Nutzer bei entsprechenden Einstellungen schon heute sehen. Das könnte eine ganze neue Art von Literatur hervorbringen. „Die Frage ist am Ende, wer dann der Autor ist“, sagt Kunze. Schließlich hätten die Leser ebenfalls mitgearbeitet.
Amazon und Google sind scharf auf Leserdaten
Allerdings besteht die Gefahr, dass Literatur, die nicht dem Mainstream entspricht, vom Markt verschwindet. Ein weiteres Problem, so Kunze, sei der Datenschutz: „Amazon und Google wissen sowieso schon so viel, ich will nicht, dass sie auch noch mein Leseverhalten im Detail kennen.“ Trotz dieser Vorbehalte findet der Experte die Möglichkeiten des Big Data, des Datensammelns, durchaus reizvoll. Mittels GPS könnte ein elektronisches Lesegerät beispielsweise geeignete Orte für das Lesen identifizieren – solche, an denen viele Menschen lesen - und sie anderen weiterempfehlen. Teilen wir unsere Meinung über Texte über eine solche Vernetzung anderen Lesern mit, erfahren wir, wer einen ähnlichen Geschmack hat und können uns über Gelesenes austauschen. Der Stuttgarter Informatiker Tilman Dingler sieht darin sogar ein generationsübergreifendes Projekt: „Was hat meinen Großvater bei diesem Buch bewegt? Welche Gedanken hatte mein Vater bei jener Passage?“ Womit wir wieder ganz in der Nähe des gedruckten Buches wären: Wer hat nicht schon fasziniert ein altes Buch seiner Großeltern durchgeblättert und versucht, deren Anmerkungen zu entziffern?
Ist das gedruckte Buch am Ende? Computerwissenschaftler Kunze glaubt nicht daran. „Ein schönes gebundenes Buch ist auch eine Kunstform.“ Für manche Anforderungen sei die Digitaltechnologie einfach nicht so gut geeignet wie Papier. Ob E-Books das Medium der Zukunft sind, da ist sich Kunze nicht so sicher: „Ich frage mich, wie Geschichten in Zukunft erzählt werden“, sagt er. Vielleicht müssen sich die Forschung und die Gesellschaft erst davon lösen, das Buch digital nachbilden zu wollen, um neue Formen des Erzählens und des Lesens zu finden.
von Eva Wolfangel