Wissenschaftsreportage Technik Eva Wolfangel

Stuttgarter Zeitung, 3. Juli 2011 - pdf, online

In Köln eröffnet am Freitag, 5. Juli, das „envihab“. In dem neuartigen Forschungszentrum sollen Erkenntnisse über die Folgen der Schwerelosigkeit gewonnen werden. Davon profitieren auch die Menschen auf der Erde.

Wie können sich Astronauten im All länger fit halten? Wie muss die Crew für einen Marsflug zusammen gesetzt sein, damit sie die lange Zeit auf engem Raum auch psychisch durchhält? Und was können bettlägrige Patienten tun, um Kreislaufprobleme und Knochen-Abbau zu verhindern?

Wer meint, dass all diese Fragen nicht zusammen hängen, wird am Freitag eines Besseren belehrt: dann öffnet in Köln das „envihab“, eine medizinische Forschungseinrichtung des Deutschen Zentrums für Luft und Raumfahrt. Das Kunstwort ist zusammengesetzt aus „Environment“ (Umwelt) und „Habitat“ (Lebensraum) deutet an, worum es dort im weitesten Sinne gehen soll: Um die Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt. Auf 3500 Quadratmetern Nutzfläche sollen dort künftig verschiedene Disziplinen von der Biologie über die Weltraumphysiologie, die Psychologie bis hin zur Sportwissenschaft eng zusammenarbeiten und kontrollierte Studien durchführen können. Einzigartig dabei ist die Breite der vertretenen Forschungsrichtungen und die Größe der Einrichtung. Dabei geht das Interesse der Forscher weit über geschlossene Lebenserhaltungssysteme, wie sie für die Raumfahrt interessant sind, hinaus. Auch das Leben auf der Erde steht im Fokus: „Der Astronaut stellt einen Extremfall der Physiologie und der Psychologie dar“, erklärt Jochen Zange, Leiter der Arbeitsgruppe Integrative Muskelphysiologie des DLR-Instituts für Luft- und Raumfahrt-Medizin, „durch ihn lernen wir auch etwas über den Menschen allgemein.“

„Auf dem Mars trägt einen keiner aus der Landekapsel.“

So sind die Auswirkungen eines mehrmonatigen Aufenthaltes auf der Internationalen Raumstation ISS in Teilen ähnlich wie die einer lange Bettruhe, wie sie beispielsweise durch eine Krankheit ausgelöst wird: Der Kreislauf wird zu wenig gefordert und dadurch geschwächt, der Körper baut Knochen- und Muskelmasse ab. Wie sich das effizient verhindern lässt, ist eine der Fragestellungen, auf die die Medizin bis heute nur eine ungefähre Antwort hat: Irgendeine Art von Training. Die Astronauten auf der Internationalen Raumstation ISS absolvieren deshalb täglich zwei bis drei Stunden ein spezielles Kraft-Ausdauerprogramm. Aber obwohl das Training nach bewährten (irdischen) Grundsätzen aufgebaut ist, schlägt es nur bedingt an: Die Astronauten können ihre Fitness erhalten, aber nicht verbessern. Das Problem dabei: Wenn ein Astronaut aufgrund einer Krankheit einige Tage nicht trainieren kann, holt er den Trainingsrückstand nie wieder auf. „Noch ist unklar, wieso die Muskeln im All anders auf Trainingsreize reagieren, als auf der Erde“, sagt Zange.

Für das halbe Jahr, das Astronauten üblicherweise auf der ISS verbringen, ist das noch kein so großes Problem. Die Anwärter trainieren vorher angepasst an die geplante Aufenthaltsdauer und durchlaufen hinterher ein Reha-Programm, das sie wieder für das Leben auf der Erde fit macht. Aber für künftige Langzeitmissionen auf den Mond oder gar zum Mars muss dieses Problem gelöst werden. Denn wer sieht, wie Astronauten nach der Rückkehr aus dem All aus den Sojuskapseln getragen werden müssen und kaum selbständig stehen können, versteht die Problematik, so Peter Gauger von der Abteilung Weltraumphysiologie des DLR-Instituts für Luft- und Raumfahrtmedizin: „Auf dem Mars trägt einen keiner aus der Landekapsel.“

60 Tage liegen, den Kopf sechs Grad tiefer als die Füße

Eine zentraler Forschungsinhalt im „envihab“ ist daher die Frage, welche Maßnahmen den Auswirkungen von Schwerelosigkeit ebenso wie Bettruhe am zielgerichtetsten entgegenwirken – und wieso. Herzstück des neuen Zentrums sind 12 Probandenräume, die alle gleich geschnitten sind und Versuche unter absolut einheitlichen Bedingungen ermöglichen. „Wir können so schon nach fünf Tagen Bettruhe nachweisen, ob Knochen abgebaut wurde“, sagt Jochen Zange, „das geht aber nur unter sehr kontrollierten Versuchsbedingungen mit einer standardisierten Ernährung.“ Die Probanden dürfen in dieser Zeit ausschließlich liegen, den Kopf um sechs Grad tiefer als die Füße. Sie werden auch liegend in die Dusche geschoben und müssen eine Bettpfanne benutzen. Ihr Menü ist abhängig von ihrem individuellen Verbrauch und wird im Vorfeld exakt berechnet und von Ernährungswissenschaftlern zusammen gestellt. Die Probanden müssen genau das essen und trinken, was ihnen vorgesetzt wird, kein Krümel und kein Schluck Wasser dürfen übrig bleiben.

Wichtig für die Untersuchungen ist eine Anlage, die zwei medizinische Bildgebungsverfahren kombiniert: die Magnetresonanztomographie (MRT) und die Positronenemissionstomographie (PET). Mit dieser Anlage können die Wissenschaftler Veränderungen im Körper ihrer Probanden quasi live verfolgen. „Wir werden das natürlich ganz anders nutzen als ein Arzt“, erklärt Zange, „es geht nicht darum, Krankheiten oder Verletzungen zu erkennen.“ Vielmehr vermessen die Wissenschaftler die Größe von Muskeln, dem Herzen oder anderer Organe vor, während und nach einer Bettruhestudie. Dabei können sie auch die Konzentration von Fett und Wasser im Körper untersuchen sowie den Energiestoffwechsel oder den Natriumsalzgehalt in Organen.

Reha-Programm für Astronauten in Köln anstatt in Houston

Die längste Studie mit liegenden Probanden soll dabei 60 Tage dauern. „Nach langen Studien müsste man mit den Teilnehmern ein Reha-Programm machen“, plant Zange. Ein ähnliches Programm durchlaufen zurück gekehrte Astronauten derzeit im NASA-Kontrollzentrum Houston – auch das könnten die europäischen Astronauten künftig in Köln absolvieren.

Manche Probanden werden während der Liegezeit mit möglichen Gegenmaßnahmen behandelt, die Kontrollgruppe hingegen nicht, um die Wirksamkeit dieser Maßnahmen zu bestimmen. Dafür hat das DLR unter anderem eine neuartige Human-Zentrifuge entwickelt, die im „envihab“ in Betrieb genommen wird. Die Menschen liegen dabei mit dem Kopf zum Zentrum und den Füßen nach außen auf den Armen der Zentrifuge. Dreht sich diese, wirkt die Zentrifugalkraft wie die Schwerkraft in Richtung der Füße. „Die Idee, durch eine Zentrifuge die Schwerkraft zu ersetzen, ist so alt wie die Raumfahrt selbst“, erklärt Zange. Nun soll ans Licht kommen, wie diese künstliche Schwerkraft auf den Organismus wirkt: Im Idealfall kann sie den Kreislauf entsprechend trainieren, der das Blut, das dadurch in die Beine gedrückt wird, zurück zum Herzen transportieren muss.

Die Probanden können während des Zentrifugierens unter anderem mittels Ultraschall überwacht werden. Die Zentrifuge wurde extra so konstruiert, dass sie auf der Raumstation Platz finden könnte. Möglicherweise könnten die Astronauten über Nacht mit geringer Geschwindigeit zentrifugiert werden und so ihren Kreislauf passiv fit halten. Bevor ein teurer Transport auf die ISS allerdings erwogen wird, muss diese These im envihab überprüft werden.

Persönlichkeitstypen für die Reise zum Mars gesucht

In weiteren Räumen können die Zusammensetzung der Luft sowie der Druck so verändert werden, dass eine Höhe von 5500 Metern simuliert werden kann. Die Wissenschaftler wollen herausbekommen, mit wie wenig Druck und wie viel Kohlendioxid in der Luft der Mensch über einen längeren Zeitraum leistungsfähig bleibt. Um dies zu beurteilen, will das DLR auch Psychologen ins Boot holen. Denn woran erkennt man Stress? „Wenn man Astronauten beispielsweise während eines Andock-Manövers fragt: Geht es dir gut?, sagen sie immer: Ja alles gut“, berichtet Zange. „Dabei ist es ihnen oft übel.“ Um Gefahren vorzubeugen, macht es Sinn, solche Aussagen mittels Daten zu überprüfen. Wie ein extremer Leistungsdruck, körperliche Belastungen oder Schlafmangel die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit des Menschen beeinflussen, werden in den kommenden Jahren Physiologen und Psychologen gemeinsam erforschen.

Nicht zuletzt können im „envihab“ ähnliche Studien wie die Mars-500-Studie durchgeführt werden: Der innere Teil des Zentrums mit den Probandenräumen lässt sich komplett isolieren und von außen überwachen. Auch ein Tag-Nacht-Rhythmus kann künstlich erzeugt werden, um beispielsweise die Auswirkungen von Schlafmangel oder Jetlag zu untersuchen. In solchen Studien sollen Probanden mehr als 100 Tage isoliert von der Umwelt miteinander verbringen. Denn wie die Menschen auf eine längere Isolation in einer kleinen Gruppe reagieren, welche Persönlichkeitstypen für eine Langzeitmission geeignet sind und welche Maßnahmen zur psychischen Entspannung beitragen – das will man besser nicht erst auf dem Weg zum Mars testen, wenn es kein Zurück mehr gibt.

 

von Eva Wolfangel