Stuttgarter Zeitung, 9. März 2013 - pdf
Ausgewählte Forscher aus aller Welt stellen in Stuttgart Technologien vor, die dem Menschen zu neuen Fähigkeiten verhelfen sollen. Was manchmal wirkt wie Science-Fiction ist doch für den Alltag gedacht.
Stuttgart - Der schwarz gekleidete, schwer verkabelte Mann sieht aus, als käme er direkt aus der Zukunft. Er spaziert durch die Menschenmenge, und sobald sich ihm jemand nähert, bewegen sich einige der vielen Sensoren an seinem Körper. Doch der Mann kommt aus der Gegenwart. „SpiderSense“ heißt die Entwicklung, die Victor Mateevitsi von der University of Illinois auf der internationalen Konferenz „Augmented Human“ (Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten) an der Universität Stuttgart vorgestellt hat.
Erstmals fand das Treffen, an dem sich in den vergangenen beiden Tagen 120 Experten beteiligten, in Deutschland statt. Im Vorfeld hatten sich 69 Wissenschaftler aus aller Welt auf einen „Open Call for Papers“ hin beworben. Die Vorschläge wurden von wissenschaftlichen Jurys nach einem Punktesystem bewertet. Die 38 Bestbewerteten wurden angenommen und durften sich jetzt auf der Konferenz präsentieren – unter ihnen Mateevitsi.
Spiderman als Vorbild
„Der Mensch hat für viele Gefahren auf der Welt keine Wahrnehmung“, erklärt der Wissenschaftler seine Idee. Strahlung zum Beispiel habe keine Farbe und keinen Geruch: „Wir brauchen mehr Sinne.“ Mit dem „SpiderSense“ kann man zwar keine Strahlung wahrnehmen, aber Menschen, die sich von hinten nähern. Die Sensoren registrieren das über Ultraschall und geben auf den Körper des Trägers an der Stelle Druck ab, von der sich der Mensch nähert – je fester, umso näher.
Als Vorbild diente Mateevitsi die Comicfigur Spiderman: „Superheroes spüren jede Gefahr“, sagt er. Sein ungewöhnlicher Anzug entstand aus einem Studentenprojekt mit einem Budget von nur 500 Dollar und einem Zeitrahmen von vier Monaten. Dass die Erfindung jetzt bei dem Treffen vorgestellt wurde, ist beachtlich. „Das liegt auch daran, dass sie dem Zeitgeist entspricht“, sagt Albrecht Schmidt, der die Konferenz leitet und den Lehrstuhl für Mensch-Computer-Interaktion der Uni Stuttgart innehat: „In den nächsten 50 Jahren werden sicher weitere Sinne entwickelt.“
Der Unterarm als öffentliches Display
Das Forschungsfeld „Augmented Human“ widmet sich der Frage, wie neue Technologien die Fähigkeiten der Menschen erweitern können. So tauschten sich die Fachleute unter anderem auch über Möglichkeiten aus, wie der Unterarm für private und öffentliche Informationen genutzt werden könnte – eine Entwicklung des Max-Planck-Instituts für Informatik in Saarbrücken und der Universität Singapur. Wenn jemand beispielsweise in einem öffentlichen Verkehrsmittel den Arm streckt, können alle um ihn herum auf dem an seinem Unterarm montierten Display die nächsten Stationen ablesen, so die Vision der Forscher. Sobald der Nutzer den Arm zu sich anwinkelt, bekommt er auf ihn persönlich gemünzte Informationen.
Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology (MIT) stellten, ebenfalls gemeinsam mit Forschern aus Singapur, einen Ring vor, der mit einer Kamera ausgestattet ist und seinem Träger sagt, worauf dieser zeigt. Die Innovation könnte für Blinde hilfreich sein. Es handle sich um ein intuitives System, führt Shanaka Ransiri vom Forscherteam aus: „Wir nutzen die natürliche Geste des Zeigens.“ Andere Forschergruppen haben den Ring erweitert, so dass er zur Datenübertragung genutzt werden kann: ein Fingerzeig auf eine Datei am Bildschirm genügt, um diese zu kopieren. Mit einem weiteren Fingerzeig wird die Kopie auf einen anderen Computer oder ein Smartphone übertragen.
Thad Starner wirbt für die Google-Brille
„Im Gegensatz zur virtuellen Realität will die Augmented Reality unser reales Leben erleichtern“, legt Thad Starner vom Georgia Institute of Technology den Hintergedanken dar. In der Grundsatzrede zur Konferenz warb er freilich auch für die sogenannte Google-Brille, die Ende des Jahres auf den Markt kommen soll und die er mit entwickelt hat. Diese Brille hat ein Display direkt vor dem Auge und einen Minicomputer im Bügel. Mittels Sprache und Gesten kann man damit fotografieren und filmen, durch eine fremde Stadt navigieren, über das Internet Informationen zu Orten abrufen, an denen man sich aufhält, oder Videotelefonate führen.
Aber die Google-Brille ist nur das bekannteste Werkzeug der Augmented Reality. Den Charme der Konferenz machen aus der Sicht des Gastgebers Albrecht Schmidt gerade die unfertigen Projekte aus: „Nirgendwo sonst bekomme ich so viele spannende neue Ideen aus dieser kreativen Community mit.“ Erst zum vierten Mal findet die Konferenz statt: „Aber sie wächst rasant.“ In diesem Jahr sind bereits doppelt so viele Wissenschaftler dabei wie im Vorjahr.
Die Japaner erfinden lächelnde Kühlschränke
Ein anderes Experiment aus Japan zeigt Menschen einen Echtzeitfilm von sich selbst und manipuliert dabei minimal deren Gesichtsausdruck. Die Probanden wussten den Forschern zufolge nichts davon – ihre Laune sei aber gestiegen, wenn ihr Abbild leicht gelächelt habe. In Rekimotos Labor wurde auch ein Roboter entwickelt, der einem Neuling das Schwimmen beibringt, und ein Halsband für Katzen, das mit Hilfe einer eingebauten Kamera, von GPS und Bluetooth über Twitter an Frauchen oder Herrchen postet, wo sich der Liebling aufhält und was er gerade gegessen hat.
Über manches würden die Deutschen den Kopf schütteln. „Die Japaner probieren vieles einfach mal aus“, sagt Schmidt. Aber auch die hiesigen Forscher seien inzwischen offener und experimentierfreudiger: „Nur durch Ausprobieren kann man das Potenzial und die Risiken neuer Technologien richtig abschätzen.“ Diese Offenheit bestimmt die Stimmung der Konferenz. Oft können die Vortragenden nicht alle Fragen beantworten – scheuen sich aber nicht, das Problem zu benennen. So wurde beispielsweise ein System präsentiert, das die Haut als eine Art Mauspad nutzt; es funktioniere aber nur für Männer. „Warum?“, will das Publikum vom japanischen Entwickler wissen. Der zuckt mit den Schultern. „Die Haut von Frauen ist anders, das muss erst noch erforscht werden.“ Es gibt noch viel zu tun.
von Eva Wolfangel