stern.de, 03.07.2008 - online
Nach 15 Jahren rekrutiert die europäische Weltraumagentur wieder Astronauten, der Ansturm ist enorm. 1000 glückliche Kandidaten haben eine Einladung zu ersten psychologischen Tests bekommen. Doch wie wählt man aus so vielen Bewerbern die vier Besten aus?
Frank Danesy steht vor einer der größten Herausforderungen seiner Karriere. Der Personalchef der Esa am europäischen Astronautenzentrum in Köln ist verantwortlich für die Auswahl der künftigen Raumfahrer. "Das ist ein Riesenprojekt", stöhnt er. Gleichzeitig der Traum schlechthin für einen Personaler, der gerne aus dem Vollen schöpft: 10.000 Bewerber für vier Stellen, 1000 Einladungen zur ersten Augenschau, 44 von ihnen trifft Danesy gemeinsam mit seinen Kollegen nun täglich in Hamburg.
Am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) werden die Kandidaten anfangs psychologischen Tests unterzogen. "In der ersten Runde konzentrieren wir uns auf kognitive Untersuchungen", sagt Danesy. Der medizinische Leiter der Tests, Volker Damann, nennt diese Fähigkeiten "die Hardware der Psychologie". Kognitive Fähigkeiten seien nicht erlernbar, die Bewerber können höchstens die Angst vor den Tests abbauen, indem sie ähnliche Aufgaben im Vorfeld lösen. Dabei geht es beispielsweise darum, bestimmte Muster einander zuzuordnen oder zu erkennen, welche Elemente einer Reihe nicht dazu gehören.
Am Anfang steht der Stress
Auch wenn die Schwerpunkte in der ersten Runde mathematisches Verständnis, logisches Denken und schnelle Auffassungsgabe sind, werden die ersten Kandidaten in dieser Woche an ihre Grenzen kommen. Zurecht, findet Damann: "Ein Berufsastronaut ist ja nicht dazu da, sich die schöne Erde gemütlich von oben anzuschauen." Deshalb werden die Bewerber schon in der ersten Runde unter Stress gesetzt und müssen beispielsweise gleichzeitig schnell Rechenaufgaben lösen, während ihnen parallel Zahlen gesagt werden: Bei drei ungeraden Zahlen in Folge müssen sie einen Knopf drücken. "Ein Multitasking-Test, der auch Stress auslösen kann", so der Leiter der Raumfahrtmedizin der Esa.
Doch von der Aussicht auf harte Tests hat sich offenbar kaum jemand abschrecken lassen, als die Esa im April in allen 17 Mitgliedsstaaten eine breite Kampagne startete: Große Anzeigen und unzählige Medienberichte transportierten das Anliegen der Weltraumorganisation, erstmals nach 15 Jahren neue Astronauten einstellen zu wollen. "Das Korps ist nicht mehr das Jüngste", sagt Danesy, "wir wollen nicht expandieren, aber kontinuierlich aktiv sein." Schließlich steht eine neue Ära an: Die bemannte europäische Raumfahrt. Die übrig gebliebenen acht Astronauten des Korps sollen um vier Neue verstärkt werden. Unter den Ausgewählten sind dann vermutlich auch die ersten Europäer, die zum Mond fliegen werden - auch das ist sicher eine Motivation für viele der 27- bis 37-jährigen Bewerber.
Darüber dürfe aber nicht vergessen werden, welche hohen körperlichen und psychischen Anforderungen der Beruf stellt, betont Damann. "Astronauten begeben sich in ein Abenteuer: Mehrere Tage, Wochen oder gar Monate sind sie eingesperrt auf engem Raum mit wenigen Kollegen." Dazu kommen mögliche kulturelle Differenzen in einem gemischten Team und die Herausforderung, auch komplexe Themen in einer Fremdsprache zu lösen. Dass es dabei zu Problemen kommen kann, zeigt die Geschichte: In den 90er Jahren stritten sich bei einer russischen Mission drei Astronauten so sehr, dass sie kein Wort mehr miteinander redeten. "So etwas kann man sich in der Raumfahrt schon aus Sicherheitsgründen nicht erlauben", sagt Danesy.
Wie arbeiten die Bewerber in Krisensituationen zusammen?
"Wartungsfreundlich" sollen die neuen Astronauten außerdem sein, sagt der Mediziner Damann: "Sie müssen Probleme selbst sehen und anpacken." Dafür müssen sie sowohl führen, als auch zurückstecken können, dürfen nicht empfindlich sein und müssen sich im Zweifel durchsetzen. Um diesen Fähigkeiten auf die Spur zu kommen, lässt Damann und sein Team die ersten 1000 Kandidaten einen Persönlichkeitsfragebogen ausfüllen. Unter anderem auf dieser Grundlage werden dann die 200 Verbliebenen in einigen Monaten in der zweiten Runde auf Herz und Nieren getestet. Fragen wie "Sind Sie jemand, der Konflikten eher aus dem Weg geht?" müssen dabei auf einer Skala beantwortet werden. "Wer immer nur in der Mitte ankreuzt, fällt uns natürlich genauso auf, wie jemand, der immer die Extreme angibt", sagt der Mediziner Damann. Derjenige, der als Konfliktvermeider erscheint, muss in der zweiten Runde damit rechnen, mit einem Konfliktfall geprüft zu werden.
Einzelgespräche mit Psychologen und Gruppeninterviews stehen in der zweiten Runde im Mittelpunkt. Die Kandidaten werden sich in Rollenspielen wieder finden und müssen in der Gruppe komplizierte Aufgaben lösen - stets unter Beobachtung von Damann und Danesy. In einem weiteren Test müssen zwei Kandidaten eine Aufgabe gemeinsam am Computer lösen. Allerdings sitzen sie in getrennten Räumen, haben verschiedene Informationen und können sich nur über Funk unterhalten. "Das ist ein sehr schwieriger Test, bei dem wir prüfen, wie die Kandidaten Informationen weitergeben, wie sie kommunizieren und in Krisensituationen zusammenarbeiten", sagt Damann.
Die psychologischen Tests der zweiten Runde sind berüchtigt: Immer wieder haben Astronauten in den Medien berichtet, wie Mitbewerber in dieser Phase aufgegeben haben, weil der psychische Druck zu groß wurde. Darauf setzt die Esa ganz bewusst: "Wir können nie ausschließen, dass ein getesteter Astronaut nicht doch irgendwann ausflippt", sagt Damann, "aber wir bringen sie im Auswahlverfahren bewusst an ihre Grenzen, um möglichst sicher zu gehen, dass sie stressresistent sind." So wird den Kandidaten während der zweiten Runde weder gesagt, was noch auf sie zukommt, noch, wie viel sie erreichen müssen.
In die Zentrifuge kommt keiner mehr
Auch die Esa-Verantwortlichen wissen nicht genau, was auf sie zukommt. Schließlich sind seit der letzten Auswahl 15 Jahre vergangen, die Tests wurden verändert und teilweise neu entworfen. Gerade im medizinischen Bereich wird auf manches heute verzichtet. "Wir setzen beispielsweise niemanden mehr in eine Zentrifuge", räumt Personalleiter Danesy mit einem alten Vorurteil auf. In den 60er Jahren habe man noch nicht genau gewusst, wie die Bedingungen im All den menschlichen Körper beeinflussen. Deshalb mussten die Astronauten in Auswahlverfahren in einer rotierenden Kapsel Rechenaufgaben lösen, während das Vielfache ihres Körpergewichts auf sie wirkte. Die körperliche Belastung ist dennoch enorm: Der Wechsel zwischen dem Druck in der Startphase und der späteren Schwerelosigkeit ist belastend für den Organismus. "Durch Blutverlagerungen sehen Astronauten deshalb auf Fotos oft etwas aufgedunsen aus", sagt Danesy. Auch die Bewegungen während der so genannten Weltraumspaziergänge in speziellen Anzügen sind anstrengend. "Dafür muss jemand aufgestellt sein", sagt Danesy. Für Raumspaziergänge wird beispielsweise in einem extrem tiefen Tauchbecken trainiert. Für die Fitness müssen die Kandidaten in der dritten Runde, dem medizinischen Teil der Tests, Überlebenstrainings in der Natur bei extremer Kälte absolvieren.
Nach der vorletzten Runde, die aus intensiven medizinischen Tests besteht, sollen etwa 40 Kandidaten übrig bleiben, so Damann: "Diese sind dann psychisch und physisch voll tauglich für den Einsatz als Astronaut." In Einzelinterviews wird dann der professionelle berufliche Hintergrund geprüft. Vier der 40 sollen schließlich voraussichtlich in das Korps aufgenommen werden und im Frühjahr 2009 mit dem Training beginnen. Durchschnittlich sieben Jahre dauert es dann, bis ein Astronaut seinen ersten Flug ins All absolviert. "Normalerweise wird aber jeder die Gelegenheit bekommen", sagt Danesy. Gerüchte, nach denen manche Mitglieder des Korps "immer nur auf der Bank" sitzen, seien nicht richtig. Es ist allerdings schon vorgekommen, dass einzelne Astronauten das Korps vorher verlassen haben, weil sie beruflich noch spannendere Angebote bekamen. Dass seine Leute gefragt sind, wundert Danesy nicht: "Wir haben schließlich phantastische Allroundtalente."