Wissenschaftsreportage Technik Eva Wolfangel

Stuttgarter Zeitung, 02.11.2011 - pdf

In der zweiten Grippesaison nach der Schweinegrippe-Pandemie 2009 versuchen Wissenschaftler, den Verlauf kommender Grippewellen zu simulieren. Das größte Problem dabei sind die Daten.

Stellen Sie sich vor, Sie haben Schweinegrippe und merken es nicht. Genau das könnte bei der Pandemie 2009 vielen Menschen so ergangen sein. Das ist einer der vielen Gründe, weshalb der Verlauf einer solchen Grippewelle nur schwer vorhersagbar ist. „Nur ein Drittel der Betroffenen geht zum Arzt“, sagt der Mathematiker und Informatiker Markus Schwehm. Ein weiteres Drittel fühlt sich zwar krank, geht aber weiter zur Arbeit, und ein Drittel verbreitet das Virus, ohne es selbst zu spüren.

Schwehm ist selbständiger Modellierer und bearbeitet mit seiner Firma explosys, einer Ausgründung der Universität Tübingen, seit Jahren zahlreiche Anfragen aus dem Ausland, um mit seinem frei zugänglichen Programm „Influsim“ die Folgen von Virenerkrankungen zu simulieren und gemeinsam mit Gesundheitsbehörden Pandemiepläne zu entwickeln. 2009 aber verzweifelte er: „Es gab einfach keine Daten.“ Das Robert-Koch-Institut sammelte zwar bereits damals wie heute so genannte ARI (acute respiratory illness)-Daten von 800 bis 1000 in Deutschland verteilten Ärzten und stellt diese Informationen in Form von Landkarten auf seiner Internetseite zur Verfügung. Die ARI-Daten seien aber für eine Modellierung zu ungenau, da sie alle Fälle von Atemwegserkrankungen erfassten, klagt Schwehm. Das sieht man beim RKI anders: „Diese Daten geben einen guten Eindruck über die Verbreitung der Influenza“, sagt Sprecher Günther Dettweiler. Zudem würden sie ergänzt durch Untersuchungen von Abstrichen, die einzelne Ärzte einschickten. Wie bei einer repräsentativen Umfrage auch, könne man diesen Ausschnitt auf den Zustand der Gesamt-Bevölkerung übertragen.

Modellierer Schwehm will das Thema grundsätzlicher angehen. Um die Influenza simulieren zu können, braucht er Detailinformationen: Wie lange ist die Inkubationszeit, wo häufen sich Fälle, wie verläuft die Ansteckung? Diese Informationen übersetzt er mit vielen anderen Fakten in exakte mathematische Formulierungen. Dann kann er mögliche Maßnahmen gegeneinander abwägen, beispielsweise, ob sich Schulschließungen rentieren, ob es sich lohnt, Arbeitnehmer schon bei einem Schnupfen zu beurlauben oder welche Teile der Bevölkerung bevorzugt geimpft werden sollen, wenn nur begrenzt Impfstoff zur Verfügung steht.

Als das neue Virus H1N1 2009 auftauchte, waren diese Fragen alle offen. Während das RKI die Ausbrüche der Schweinegrippe an einzelnen Schulen deshalb sehr genau verfolgt habe, seien diese Daten für externe Wissenschaftler nicht zugänglich gewesen, sagt Schwehm: „Solche klar umgrenzten Ausbrüche sind interessant, weil man so die Eigenschaften der Ausbreitung sehen kann, die im späteren Verlauf der Pandemie nicht mehr sichtbar sind.“ Beispielsweise die Dauer, bis ein Betroffener andere ansteckt oder die Zahl asymptomatischer Fälle – alles wichtige Grundlagen für eine Modellierung. Den Vorwurf der Verheimlichung kann sich Dr. Gérard Krause, Leiter der RKI-Abteilung für Infektionsepidemiologie, nicht erklären: „Mich hat Herr Schwehm nie danach gefragt.“ Dabei kennt er Schwehm gut: In zahlreichen Gesprächsrunden habe ihn das RKI bei der Entwicklung seines Programmes „Influsim“ unterstützt. Womöglich sei das Ganze ein Missverständnis, da Schwehm als Mathematiker eventuell nicht einschätzen könne, wie lange die klinischen Wissenschaftler des RKI mit der Auswertung der Daten beschäftigt seien.

In der Tat hat das RKI in aufwändigen Aktionen im Sommer 2009 die ersten Ausbruchsorte der Schweinegrippe aufgesucht und die Betroffenen und ihre Angehörigen täglich untersucht. Bis heute ist die Auswertung dieser Daten nicht abgeschlossen, weshalb die RKI-Modellierungen noch nicht öffentlich seien, so Krause. Die damaligen Impfempfehlungen seien auf Grundlage einer ersten Übersicht entstanden, da Eile geboten war. „Modellierung ist nicht geeignet, die Zukunft vorherzusagen“, warnt er, „zu dem Zeitpunkt, an dem man genauere Annahmen treffen kann, ist der Höhepunkt einer Welle meist schon erreicht.“

Damit will sich Schwehm nicht zufrieden geben. Gemeinsam mit Kollegen aus den Niederlanden und anderen europäischen Ländern will er künftige Grippewellen besser simulieren. Dafür hat er im Rahmen eines EU-Projektes den deutschen Teil eines Internetportals gestartet, in dem Freiwillige während der Grippesaison einmal wöchentlichen anonym ihren Gesundheitszustand eintragen können. „Damit erfassen wir also auch jenes Drittel, das wegen schwächerer Symptome nicht zum Arzt geht“, sagt Schwehm. Zudem werden nicht die ARI-Daten, sondern sogenannte ILI-Daten (Influenza Like Illnesses) erhoben: Nur wer zusätzlich zu Atemwegserkrankungen auch noch Fieber hat, gilt als potentieller Grippefall. Verfälschen überängstliche Teilnehmer nicht das Ergebnis? „Solche Fälle hat man in jedem Datenpool“, sagt Schwehm und verweist auf Google Flu Trends, einen Dienst, der anhand von Suchanfragen zum Thema Grippe deren Verbreitung simuliert: Wer hier nach „Fieber“ googelt, muss keines haben. Trotzdem ist die Vorhersage recht genau (siehe Infokasten).

Den neuen Datenpool wollen die Modellierer nutzen, um in Zusammenarbeit mit Gesundheitsämtern mögliche Präventionsmaßnahmen zu simulieren. Vor und während der Schweinegrippe-Pandemie 2009 tat Schwehm das im Auftrag der Schweizer Gesundheitsbehörden und förderte teils unerwartete Ergebnisse zutage. Unter anderem warnte er davor, die gesamte Bevölkerung prophylaktisch mit dem Grippemedikament Tamiflu zu behandeln, da dadurch deutlich schneller als gedacht resistente Keime entstünden. Maximal 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung sollten daher mit Tamiflu behandfelt werden, empfahl er. Das lässt sich aber nicht auf Deutschland übertragen: Schon unterschiedliche Schulsysteme und die Lage von Ballungsräumen lassen die Ergebnisse für jedes Land anders ausfallen.

Auch die deutschen Gesundheitsämter signalisierten gegenüber Schwehm Interesse an einer Zusammenarbeit. Aber nachdem er „Influsim“ in Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter Landesgesundheitsamt entwickelte hatte, lief das finanzierende EU-Projekt 2008 aus, das Interesse der Behörde erlosch. Dabei würde sich eine Investition lohnen, glaubt Schwehm: Schließlich müssen mögliche Aktivitäten gut abgewogen werden. So berücksichtigt „Influsim“ nicht nur den Nutzen, sondern auch die Kosten der jeweiligen Maßnahme - von der Schulschließung bis zur Massenimpfung. So konnte Schwehm seinen Schweizer Auftraggebern 2009 einen weiteren wertvollen Rat geben: Den gleichen Effekt wie die Behandlung von 20 Prozent der Bevölkerung mit Tamiflu würde eine Hygienekampagne bewirken, in der richtiges Händewaschen und das Vermeiden unnötiger Kontakte vermittelt wird. Das wäre nicht nur billiger, sondern auch frei von Nebenwirkungen.


Infokasten: Grippesimulation im Internet

  • Influsim: Ein frei zugängliches Programm für Profis: Hier können zahlreiche Parameter wie demographische Daten, die Zahl der Krankenhäuser, der Anteil an  Menschen mit besonders vielen Kontakten in der Bevölkerung (so genannte „Superspreader“), aber auch die Kosten von Betriebsschließungen, für Impfstoffe  etc eingegeben werden. Auf dieser Grundlage kann die Verbreitung eines Virus simuliert und mögliche Gegenmaßnahmen gegeneinander abgewogen werden. Ergebnis eines aufwändigen Rechenprozesses könnte ein nationaler Pandemieplan sein. http://www.influsim.info/
  • Influenzanet: Unter „www.aktiv-gegen-grippe.de“ findet sich die deutsche Seite des EU-finanzierten Projektes. Freiwillige können hier während der Grippesaison wöchentlich ihren Gesundheitszustand eintragen. Tagesaktuell können die Nutzer auf Landkarten die Verbreitung der Grippewelle verfolgen und sich über sinnvolle Präventionsmaßnahmen informieren.
  • Google FluTrends: Ein ähnliches Projekt: Anhand von Suchanfragen zum Thema Grippe simulliert der Googledienst die rollende Grippewelle. Laut eines Fachartikels in der Zeitschrift nature eine recht treffsichere Methode. www.google.org/flutrends/
  • Robert-Koch-Institut: Unter www.influenza.rki.de/ veröffentlicht die Arbeitsgemeinschaft Influenza wöchentlich aktuelle Karten der Verbreitung von Atemwegserkrankungen. Auch die Auswertungen einzelner Laboruntersuchungen werden veröffentlicht sowie eine Prognose zum Stand der Grippewelle.