Wissenschaftsreportage Technik Eva Wolfangel

Stuttgarter Zeitung, 30.10.2009  - pdf

Früher hatte Volker von Wirth Angst vor Spinnen. Heute lebt er mit zahlreichen Vogelspinnen unter einem Dach. Sogar neue, bislang unbekannte Arten hat der Forscher entdeckt. Und er pflegt eine aussterbende Wissenschaft: die Taxonomie.

Hätte er nur den Keller seiner Großeltern damals nicht entdeckt. Dann würde er heute nicht hier sitzen, hier in einem kleinen Arbeitszimmer in Großbottwar bei Ludwigsburg, und in aller Herrgottsfrühe mit diesem haarigen Spinnenbein kämpfen. Er zieht es mit Pinzetten an beiden Enden in die Länge, aber das tote Bein knickt immer wieder an einem der vielen Gelenke ein. Das Bein hängt an einem dicken runden Spinnenkörper, fellig und nass wie ein neugeborenes Entlein. Er packt das Tier schließlich am Ende des Beines, der Körper baumelt wie ein Pendel über der Plastikdose, in der die Spinne in Alkohol eingelegt war. Tropfen sammeln sich an den Haarspitzen und landen auf dem Schreibtisch.

Der Schreibtisch ist Volker von Wirths Arbeitsplatz. Zumindest jeden Morgen zwischen 5.30 Uhr und sieben Uhr. Für seine Arbeit neben der Arbeit steht von Wirth, 41, extra früh auf, um überhaupt Zeit dafür zu finden. Hauptberuflich züchtet er als Produktionsleiter Futterinsekten für Zoohandlungen, die Wochenenden verbringt er mit seiner Lebensgefährtin, zwei Katzen fordern zudem Zeit. Aber diese eineinhalb Stunden frühmorgens gehören allein den Vogelspinnen: Er sammelt sie, Tote und Lebendige, er vermisst, katalogisiert und beschreibt sie im Dienste der Wissenschaft. Das Arbeitszimmer ist das kleinste Zimmer der Wohnung. Vogelspinnen brauchen nicht viel Platz. In der Natur leben sie in röhrenförmigen Löchern, kaum breiter als der Spinnenkörper, ihr Bewegungsradius ist klein. Über den Regalen hängen Poster der Hard-Rock-Band Kiss, am Fenster Wimpel eines Fußballvereins, dazwischen ein ausgebleichtes Fan-T-Shirt. Stumme Zeugen vernachlässigter Hobbys.

Aber heute zählt nur das störrische Spinnenbein. Es geht um Millimeter. Mit der Pinzette drückt der Forscher mit Brille und Ziegenbart das Bein flach auf den Tisch und richtet sein digitales Messgerät aus. „75 komma drei drei“, murmelt von Wirth und trägt den Wert in ein Formular ein. Eine Spinne mit fast acht Zentimeter langen Beinen würde den meisten Menschen einen gehörigen Schreck einjagen. Volker von Wirth bereitet sie Vergnügen. Er ist einer neuen, bislang unentdeckten Art auf der Spur.

Mit den langen Beinen fing alles an. Ein Auszubildender findet in einer Zoogroßhandlung Ende der achtziger Jahre in einer Lieferung eine auffällige Vogelspinne. Der Azubi hält Zuhause einige Vogelspinnen und erkennt sofort: Das vierte Beinpaar ist ungewöhnlich lang. Das Tier ist tot, der Chef erlaubt ihm, es mit nach Hause zunehmen. Dort macht sich der Junge auf die Suche, liest Fachbücher und Beschreibungen und gelangt immer mehr zur Gewissheit, dass er ein unbekanntes Exemplar der Gattung Haplopelma besitzt. Fast 15 Jahre dauert es, bis er die Spinne nach den Regeln der komplexen Wissenschaft der Systematik und der Nomenklatur beschrieben hat. Wer eine neue Art entdeckt, darf sie taufen. Er nennt sie Haplopelma longipes: Langbein.

Heute weiß Volker von Wirth, dass seine damals entdeckte langbeinige Vogelspinnenart wohl vom Aussterben bedroht ist. In Thailand, Laos und Kambodscha wird die Haplopelma longipes frittiert am Straßenrand als Snack angeboten. Dazu kommen Biotopzerstörungen, der Raubbau des Menschen an der Natur: Von Wirth ist sich sicher, dass viele Arten aussterben, bevor sie überhaupt einen Namen haben. Schwierige politische Verhältnisse haben die Forscher lange daran gehindert, in Asien Vogelspinnen zu sammeln. Von Wirth hat sich diesem Kontinent angenommen. Als Systematiker fühlt er sich verpflichtet, möglichst viele asiatische Vogelspinnen gewissenhaft zu beschreiben, bevor es sie nicht mehr gibt. Jetzt rennt die Zeit.

Dass ihn Spinnenbeine einmal so faszinieren würden, hat das Kind Volker damals nicht gedacht. Das wollte lieber nichts wissen von dem Getier, das im alten Keller seiner Großeltern hauste. Maximalen Abstand wollte er bringen zwischen sich und diese unheimlichen Tiere. Doch daraus sollte nichts werden: immer in den Ferien schickten ihn seine Eltern zu den Großeltern aufs Land und deren Spinnen im Schuppen, Keller und Garten. Alte Häuser und ein nahes Naturschutzgebiet - in dem kleinen Ort in der Nähe von Aachen lebten die Spinnen eng mit den Menschen zusammen.

Mit zwölf Jahren geht der Teenager schließlich in die Offensive. Er will „die Lebensäußerungen der Spinnen“ verstehen. Sie sollen ihm nicht mehr so fremd sein, er will beim Gang in den Keller keine Angst mehr haben. Volkers Großeltern müssen fortan viel Eis essen. Denn ihr Enkel braucht die leeren Dosen für seine Spinnen, die er darin hält, füttert und beobachtet. So bewohnen die „Großen Hauswinkelspinnen“ schließlich nicht mehr nur den Keller, sondern auch das Kinderzimmer.

Damals hat sich Volker von Wirth mit einer Spinnenart zufrieden gegeben. Andere lebten eben nicht in Opas Keller. Heute steht er im Dienst der Artenvielfalt. Sieben neue Vogelspinnenarten hat von Wirth bereits entdeckt und teils mit Kollegen, teils alleine wissenschaftlich beschrieben. Zudem schreibt er Bücher über die Haltung von Vogelspinnen. Seit 300 Millionen Jahren gibt es sie, sie gehören zu den ersten Spinnen. 860 Vogelspinnen-Arten sind heute bekannt. Die Wissenschaft geht von tausenden Unbekannten aus. Sie unterscheiden sich durch Strukturen, die teilweise von außen nicht sichtbar sind.

Diesen Strukturen ist von Wirth an diesem Morgen auf der Spur. In einem schwarzen T-Shirt mit dem Aufdruck „Prunkstück der Evolution“ sitzt er am Schreibtisch in der Ecke des Arbeitszimmers und beugt sich über ein Formular wie ein eifriger Schüler über eine Klassenarbeit. Das Formular ist dicht beschrieben mit lateinischen Begriffen. Wie groß ist der Kopf, wie lang das erste Bein und wie lang das vierte? Wie sind die Augen angeordnet und wie die Beißwerkzeuge? Volker von Wirth schneidet ein Stück des Beines ab und legt es unter das Mikroskop, er fotografiert, vermisst und trägt alles gewissenhaft ein.

Es ist still im Arbeitszimmer. Nur das Zirpen einiger Grillen ist zu hören. Sie sitzen dicht gedrängt in kleinen Plastikschachteln und warten darauf, an die Vogelspinnen verfüttert zu werden. Die Regale stehen voller Dosen: Manche sind kaum größer als ein Filmdöschen, andere sehen aus wie Spaghettiaufbewahrungsdosen aus dem Lifestylegeschäft. Manche sind dicht verschlossen, andere haben kleine Löcher. Das sind die mit den lebendigen Spinnen.

An die erste kann sich von Wirth gut erinnern: Die hat er seiner Mutter mit 17 abgetrotzt – ein Tauschhandel gegen Nie-Wieder-Nägelkauen. Das „aber nur eine“ der Mutter verhallte ungehört: Zum 18. Geburtstag schenkten ihm Freunde eine Zweite. Heute kommen die Spinnen mit der Post. Das aktuelle Päckchen kommt aus Ulm, ein Zoohändler fragt, ob von Wirth diese Art kenne. Es ist ein sogenannter „Beifang“: in jeder Lieferung an die Zoogeschäfte finden sich einige fremde Exemplare, die nicht bestellt wurden. Sie sind zufällig gefangen worden und werden einfach mit nach Deutschland geschickt. Eines der Exemplare war tot – eine Voraussetzung, um sie zweifelsfrei zu bestimmen. Zur Untersuchung bereit liegt sie nun auf von Wirths Schreibtisch.

Manche Zoohändler verkaufen die unbekannten Beifänge einfach. Es ist eine der Lieblingsgeschichten des Vogelspinnenforschers: Händler versehen ihre Spinnen dann oft mit Phantasienamen wie „Ceylon Vogelspinne“. Wozu brauchen Hobbyzüchter auch diese komplizierten wissenschaftlichen Namen. Immer wieder kommt es vor, dass jemand ein Männchen und ein Weibchen einer vermeintlich gleichen Art für viel Geld kauft, sie in der Hoffnung auf ein produktives Liebesspiel in ein Terrarium setzt und am nächsten Tag nur noch eine von beiden lebend vorfindet; die andere zerfetzt. Quasi ein kulturelles Missverständnis: Artfremde Spinnen haben unterschiedliche Paarungsrituale. Nicht selten sind 500 Euro dahin.

Es ist eine von vielen Geschichten, mit der Volker von Wirth erklärt, wieso Forscher wie er so wichtig sind: Systematiker, die Arten akribisch beschreiben. Nur diese aussterbende Wissenschaft der Taxonomie kann Arten eindeutig erkennen. „Aber seit dem Hype um die Gentechnik wird in Taxonomie nicht mehr investiert“, klagt von Wirth. Es ist eine aufwendige Wissenschaft. Nach der detaillierten Vermessung und Beschreibung der Tiere gehen die Forscher in die Naturkundemuseen und suchen nach eingelagerten Exemplaren der gleichen Gattung, um sie sicher voneinander abzugrenzen. Wer eine Gattung oder eine Art neu beschreibt, muss ein Belegexemplar davon in einem geeigneten Museum hinterlegen. Es gibt in Deutschland keinen Taxonomie-Lehrstuhl mehr. Angehende Taxonomen kämpfen um Fördermittel, um ihre aufwendige Arbeit fortführen zu können.

Deshalb ist von Wirth heute froh über das, was früher seine größte Niederlage war. „Mit diesem Abitur können Sie nicht Biologie studieren“, hatte die Universitätssekretärin der TH Aachen freundlich, aber bestimmt gesagt. Dabei hatte er nur darauf hin gearbeitet: sich nach der Entdeckung seiner Spinnenleidenschaft von der Hauptschule aufs Gymnasium gekämpft, gelernt statt gespielt, Fachbücher gelesen statt Comics. Aber das Abitur galt nicht für NC-Fächer, eine Fremdsprache fehlte. In jahrelangem Selbststudium hat sich von Wirth die Wissenschaft der Taxonomie schließlich selbst beigebracht. Als hauptberuflicher Insektenzüchter ist er unabhängig von Projektgeldern.

Aber er  hat sich an Fragen gewöhnen müssen. „Sie sind doch kein Wissenschaftler, was wollen sie hier?“ So wurde von Wirth oft begrüßt, wenn er in den Naturkundemuseen nach den Holotypen, den Art-Belegexemplaren der alten Forscher, fragte. Sein Wissen hat viele Kuratoren überzeugt, die ihn dann doch die alten Schränke öffnen ließen. Vielleicht auch weil sie ahnten, dass diese Arbeit kein Vergnügen ist. Unzählige staubige Gläser hat von Wirth geöffnet, morsche Spinnenbeine aus der halb verdunsteten Flüssigkeit gezogen, sie vorsichtig begutachtet und nach aktuellen Kriterien neu beschrieben. Die Suche ist oft mühsam, aber unumgänglich, da die alten Beschreibungen oft wenig eindeutig sind. Manche Holotypen bleiben für immer verschollen, weil ganze Sammlungen Kriegen oder Naturkatastrophen zum Opfer gefallen sind. So wird beispielsweise die Selenocosmia javanensis nie wieder sicher identifiziert werden können: Ihr Entdecker hat 1847 nur aufgeschrieben „große Spinne in schwarzem Samtekleide.“ Sein Belegexemplar ist verschollen, man wird nie herausfinden, was für eine Spinne sich dahinter verbirgt.

Der toten Spinne des Ulmer Händlers wird es anders ergehen. Kurz vor Dienstbeginn an diesem Morgen hat von Wirth das Formular beinahe vollständig ausgefüllt. Die Bilanz nach zwei Stunden Fleißarbeit: wahrscheinlich eine unbekannte Art. Der ehrenamtliche Vogelspinnenforscher streckt sich und schaut zufrieden auf das haarige Spinnenbein auf seinem Tisch. „So fängt der Tag richtig ruhig an.“ Dann legt er das Bein vorsichtig zurück in die mit Alkohol gefüllte Dose, den Körper darauf und verschließt den Deckel sorgfältig. Jetzt kommt die Hauptarbeit. Sein Urlaub wird ihn wieder in die Museen in Berlin, London oder Paris führen. Viele staubige Gläser später wird auch diese Spinne einen Namen bekommen. Vielleicht ist ihre Art dann aber auch schon ausgestorben.