Virtuelle Realität Eva Wolfangel

Magazin GEO 12/2019
(Auszug)

In der Virtuellen Realität bauen sich schon heute einige Menschen ein alternatives Leben auf. Sie leben lieber dort als in der materiellen Realität. Ich habe vier von ihnen begleitet, in Virtuellen Welten ebenso wie in Kuwait, Israel und den USA. Und gesehen: es kann gute Gründe geben, die "Matrix" vorzuziehen.

 

Ben liebt Shoo, das zählt zu dem Wenigen, was sicher ist in dieser Welt. Deshalb hat der scheue junge Mann für seine Liebste ein Haus gebaut, prachtvoll eingerichtet mit dunklem Parkett, violetten Vorhängen, Tischlampen auf der Bar, Wendeltreppe zum Schlafzimmer. Auf dem Tisch steht eine Torte, alles soll perfekt sein für diesen Tag.

Ben hat Freunde eingeladen, die langsam eintrudeln im neuen Haus. Manche von ihnen leben Tausende Kilometer entfernt in Berlin oder Kairo. Nach ein wenig Smalltalk stehen die Gäste schließlich um die Bar herum, sie tuscheln. Etwas liegt in der Luft. Als Shoo verträumt die Torte betrachtet, schleicht sich Ben von hinten  heran, er flüstert ihr ins Ohr: „Komm mit hoch.“ Shoo folgt ihm die Wendeltreppe hinauf.

Kurz darauf vernehmen die Gäste ein kurzes Aufschluchzen. Shoo kommt die Treppe heruntergelaufen: „Ich habe mich gerade verlobt!“, ruft sie, Freude in ihrer Stimme. Und Ben lächelt zufrieden unter seiner hässlichen, unförmigen, schwarzen Kopfkinobrille.



Ben lebt in zwei Welten, in Echtwelt und in Pixelwelt. In Echtwelt steht er gerade im Wohnzimmer in Atlanta im amerikanischen Bundesstaat Georgia, mit Kopfhörern und dieser unförmigen
Brille vor dem Gesicht. Diese Brille ist seine Tür zur Pixelwelt, die den Namen AltspaceVR trägt. Setzt sich Ben die Kopfkinobrille auf, schlüpft er in ein Alter Ego, einen Avatar, der ihn in der virtuellen Welt verkörpert. Mithilfe zweier Steuerstäbe, die er in den Händen hält, kann er sich dort bewegen. Mit etwas Übung funktionieren diese Fernsteuerungen beinahe so intuitiv wie seine biologischen Hände: Er kann Dinge greifen mit ihnen oder malen. Oder streicheln.

 Bens Wohnung in Echtwelt wirkt eher kahl bis auf Computer, Headsets, Kabel, Sensoren. Dazu ein leerer Kühlschrank und eine Gitarre in der Ecke. Zwischen all dem ein junger Mann, 30 Jahre alt, mit breiten Schultern, Vollbart und glänzender Glatze. „Ich halte mich nicht für besonders attraktiv“, sagt Ben. Er findet seinen Bauch zu dick und sich selbst zu schüchtern. Weil er sich eher nicht traut, andere Menschen anzusprechen, besitzt er im echten Leben wenig Freunde und hat noch nie eine Freundin gehabt.

In Pixelwelt spielt all das keine  Rolle. Innere Werte haben eine Chance. Als Avatare gestalteten Ben und Shoo gemeinsam Kunstwerke und feierten Partys, traten immer öfter im Partnerlook auf. Stets dicht beieinander, das Glück in ihren Stimmen. Shoo die Aufgedrehte, Ben der Ruhige. Verliebt, ohne sich je in die Augen geschaut zu haben. 

Als Ben vor ein paar Monaten in ein Flugzeug stieg, um seine Liebste zum ersten Mal im echten Leben zu treffen, wurde ihm in den vielen Stunden über den Wolken vor allem eines klar: wie weit weg Shoo ist. Er führt eine Fernbeziehung, nur war das bisher nicht  weiter aufgefallen. Seither spürt er den immensen Raum zwischen sich und ihr. Echtwelt hält Barrieren bereit, die Pixelwelt mühelos überwindet. „Reality sucks“, wie Ben es  ausdrückt: Die Wirklichkeit ist ätzend. 

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Das ist nur der Anfang meiner Reportage, die hier aus rechtlichen Gründen nicht vollständig frei erscheinen darf. Es gibt aber eine ausführliche und komplette Fassung auf Riffreporter für 0,99 Euro.