Virtuelle Realität Eva Wolfangel

Riffreporter - Die VR-Reporterin - 16. Februar 2018 - Link

Der Philosoph Thomas Metzinger vertritt die Theorie, dass unser Selbst nicht existiert. Mittels Virtual Reality versetzt er Menschen in die Körper anderer, um das zu belegen. Für die Technologie sieht er aber auch ganz handfeste Anwendungen.

Herr Metzinger, im Rahmen des von der EU geförderten VERE-Projekts haben Sie mit Kollegen versucht, unser Ich-Gefühl mittels Virtual Reality auf Avatare zu übertragen. Wozu ist das gut, wenn ich glaube, ich wäre ein Avatar?

Man kann damit versuchen einige alte Fragen der Philosophie zu klären, unter anderem die, was die einfachste Form von Selbstbewusstsein ist. „Das Selbst“ im traditionellen Sinne gibt es nicht. Unsere Virtual-Reality-Experimente zeigen das.

Wieso sollte es kein Selbst geben, wo wir das doch alle deutlich fühlen?

Das Gefühl, Sie selbst zu sein, also Ihr Ich-Bewusstsein, ist nach meiner Theorie eine Simulation Ihres Gehirns, ein inneres Modell mit vielen Schichten. Ihr Gehirn berechnet aus allen Informationen, die ihm zur Verfügung stehen, was die beste Hypothese, die wahrscheinlichste Variante der Wirklichkeit ist – und die präsentiert es Ihnen. So gesehen macht Mutter Natur die beste Virtual Reality.

Sie bezweifeln, dass die Wirklichkeit real ist?

Was Sie subjektiv erleben, ist nicht Realität, sondern virtuelle Realität – eine Möglichkeit. Natürlich existiert der physische Körper, und natürlich gibt es eine Außenwelt. Aber nach meiner Theorie gibt es aber beispielsweise keine farbigen Gegenstände vor ihren Augen, sondern Mischungen von Wellenlängen. „Rot“ oder „blau“, das sind Aspekte von Modellen, die Ihr Gehirn erstellt. Das, was Sie sehen, ist eine Simulation des Gehirns. Seit Millionen von Jahren existiert die virtuelle Realität in unserem Kopf. Und wenn wir es geschickt anstellen, glauben Sie, Sie seien in einem anderen Körper.

Wie haben Sie das denn angestellt, dass Ihre Probanden dachten, sie stecken im Körper eines Avatars?

Unter der Leitung der Schweizer Psychiaterin Bigna Lenggenhager haben wir das erste Experiment dazu bereits 2007 gemacht. Damals erzeugten wir ein Bild des Probanden von hinten und ließen ihm das durch eine Virtual-Reality-Brille so erscheinen, als stünde es etwa zwei Meter vor ihm. Dann haben wir den Teilnehmer am Rücken gestreichelt und gleichzeitig über einen 3D-Enkoder das Kamerabild vor ihm in die virtuelle Realität eingeblendet, so dass er seinen eigenen Körper sah, der an der gleichen Stelle gestreichelt wurde. Dadurch beginnt das Gehirn zu glauben, dass der Eigenkörper-Avatar irgendwie zum eigenen Körper gehört.

Wie kamen Sie auf die Idee für das Experiment?

Recht bekannt ist das klassische Gummihand-Experiment: Dabei wird Ihre Hand verdeckt, während direkt daneben eine Gummihand auf den Tisch gelegt wird. Dann streichelt man Ihre und die Gummihand zeitgleich mit einem Pinsel oder Wattestäbchen. Sie glauben dann, die Gummihand gehöre zu Ihnen und spüren auch die Berührung in der Attrappe selbst – obwohl sie das rational besser wissen. Daran sieht man, dass unser Bewusstsein ein Modell ist: Wenn etwas von außen in unser Selbstmodell eingebettet wird, erleben wir es als einen Teil von uns selbst, beispielsweise als eigene Gliedmaßen oder Empfindungen.

Wofür brauchen Sie Virtual Reality, wenn es eine Gummihand auch tut?

Ich habe damals zu den Hirnforschern gesagt: Aus philosophischer Sicht wäre es spannend, das als Ganzkörpervariante zu probieren. Die haben mich ausgelacht und gesagt: Das ist Quatsch, man sieht sich ja nie selbst von außen. Aber siehe da: Jetzt geht es! Die Virtual Reality ist ein Werkzeug für uns, weil man da viele Sachen verändern kann. Man kann Menschen in den Körper eines Kindes oder einer sechsarmigen Kreatur versetzen, die visuelle Perspektive vom Körper trennen oder den eigenen Herzschlag in der Außenwelt sichtbar machen. Wenn es darum geht, den menschlichen Geist zu erforschen, ist das ein interessantes Werkzeug.

Sehen Sie dafür auch einen praktischen Nutzen?

Es wird viele klinische Anwendungen geben, auch in der Psychotherapie. Man kann beispielsweise Gelähmten einen Körper geben, den sie mittels Gedankenkraft steuern können. Magersüchtige könnten mittels einer VR-Brille sehen, dass sie nicht dick sind, man könnte vielleicht ihr Körperbild reparieren, indem man sie in ihren eigenen Körper versetzt. Auch rassistische Vorurteile kann man abschwächen: Experimente zeigen, dass Weiße weniger rassistisch sind, wenn man sie in einen schwarzen Körper steckt. Und man könnte Straftäter in die Opferperspektive versetzen.

Das klingt eher nach Rache.

Es geht aber um Rehabilitation. Viele Straftäter können sich nicht vorstellen, was sie ihren Opfern antun. Es gibt ein Projekt in Spanien, wo es viel häusliche Gewalt gibt, in dem Männer in den Körper ihrer Frau versetzt werden. Sie stehen dann ebenfalls mittels einer VR-Brille einem physisch größeren Mann gegenüber und sehen, wie furchteinflößend das ist, wenn der einen anschreit und bedroht. Jedes Mal, wenn sie etwas zu sagen oder den Blick abzuwenden versuchen, kann der vorprogrammierte Avatar zum Beispiel „Halt die Fresse!“ oder „Schau mich an!“ schreien.

So wie Sie das beschreiben, erscheint diese Begegnung dann ja sehr real. Was ist, wenn ein Straftäter dadurch ein Trauma erleidet? Wie ist das mit der ethischen Dimension?

Die Teilnehmer, die den Pilotstudien im Vorfeld zugestimmt haben, haben ausgesagt, dass ihnen das sehr geholfen hat, sich bewusst zu werden, wie angsteinflößend sie tatsächlich sind. Aber Sie haben Recht: diese Technologie ist problematisch. Das Militär könnte sie beispielsweise zur Folter verwenden. Wir Forscher haben bereits länger mit Virtual-Reality-Instrumenten zu tun als die meisten Menschen, und ich kann sagen: Das wird vieles verändern. Dieses Jahr wird die Technologie ihren Durchbruch im Massenmarkt erleben.

Ihre Prognosen was sich verändert?

Spiele und 3D-Filme werden wesentlich packender und „immersiver“. Alles andere hängt davon ab, wie wir es nutzen. Und vieles weiß man schlicht noch nicht. Wie reagieren Betrunkene oder psychisch Instabile? Wie wirkt sich das langfristig auf uns alle aus? Man muss den Menschen ehrlich sagen: das wissen wir nicht.

Welche Anwendungen sehen Sie für die Zukunft?

Wir haben gerade ein fünfjähriges EU-Forschungsprojekt abgeschlossen, dessen Vorhaben es unter anderem war, unser Ich-Gefühl dauerhaft an Avatare oder Roboter zu binden. In einem Experiment konnte beispielsweise ein Proband aus einem Kernspintomographen in Israel einen humanoiden Roboter in Frankreich kontrollieren, direkt mitseinem Geist, durch Bewegungsvorstellungen, während er gleichzeitig durch die Augen des Roboters sah. Mittels Virtual Reality können wir mittelfristig in ganz neue Rollen und Welten eintauchen, und zwar mit dem Gefühl, wir selbst zu sein.

Wie gut funktioniert die Technologie? Besteht nicht die Gefahr, dass ein solcher Roboter unter Gedankenkontrolle „außer Kontrolle“ gerät – weil der Nutzer beispielsweise abgelenkt ist?

Das ist eine große Gefahr. Vielleicht funktioniert etwa die Impulskontrolle bei der schwachen Verkörperung in einem künstlichen System nicht so gut wie im biologischen Körper. Sie könnten beispielsweise einen Roboter aus der Ferne mit den Gedanken steuern und sehen auf einmal durch dessen Augen, wie die neue Freundin ihres Ex-Mannes vor ihm steht. Eine kurze Gewaltphantasie, die wir in der realen Welt niemals ausagieren würden, könnte den Roboter dazu bringen, diese Frau zu erschlagen, bevor „sie selbst“ etwas dagegen tun können. Wer ist hier ethisch verantwortlich?

Welche Gefahren sehen Sie ansonsten?

Militärische Anwendungen sollten aus meiner Sicht verhindert werden. Wenn wir unser Selbstmodell dauerhaft an Roboter koppeln können, sind auch virtuelle Selbstmordattentate möglich: Der Teleoperateur kann sich dann viel direkter in eine Drohne oder ein anderes Waffensystem einbetten und es dadurch viel genauer und intelligenter an ein Ziel heranführen.

Werden wir unser Gehirn und unser Ich eines Tages auf eine Maschine laden können und damit unsterblich werden?

Das halte ich für völligen Blödsinn. Das ist wahnhafte Sterblichkeitsverleugnung für Kalifornier. Es wird nicht klappen, aber im Prinzip könnte man das auf unseren Avataren alles machen. Philosophisch ist das vollkommen flach. Wenn es kein substantielles Selbst gibt - was würden Sie denn alles hochladen? Ihr Kindheitstrauma, Ihre Ängste, Ihre Neurosen? Ihr Leiden und ihre Gier? Wäre das dann gut? Diese Form von Transhumanismus ist ein billiger Religionsersatz für Techies, mehr nicht.

Lesetipp: Thomas Metzinger hat zusammen mit anderen Forschern ein Diskussionspapier über die Chancen und Risiken der Künstlichen Intelligenz veröffentlicht, in dem auch die künftige Rolle der der Virtual Reality diskutiert wird.