Die ZEIT, 25. Feburar 2016
Die Virtuelle Realität fühlt sich realer an, als sich viele vorstellen können. Und sie kann missbraucht werden. Ein Ethik-Kodex soll der Gesellschaft helfen, die gute Verwendung der Technologie zu sichern.
Dieser Selbstmord war zu viel. Sean Buckley ist nicht allzu zart besaitet, er testet regelmäßig die neuesten Virtual-Reality-Killerspiele für das US-Magazin „engadget“. Aber als sich die junge Frau vor seinen Augen erschoss, zitterte er am ganzen Körper. „Das ist nicht fair, habe ich geschrien, ich bin völlig ausgeflippt“, beschreibt er seine Erfahrung im Nachhinein: „Sie war so real.“
Noch härter traf es die ersten Nutzer einer Demo für ein Sony-Headset. Dort konnte der Spieler die Pistole an die eigene Schläfe setzen und abdrücken. Der virtuelle Selbstmord versetzte die Betroffenen derart unter Stress, dass das Unternehmen das Feature schnell wieder entfernte. „Dieses Medium ist sehr mächtig, deshalb müssen wir vorsichtig mit dem sein, was wir anbieten“, kommentierte Sony-Chef Shuhei Yoshida den Vorfall. Der Virtual Reality wird für dieses Jahr der Durchbruch auf dem Massenmarkt vorhergesagt. Aber so manche Gamer machen derzeit Erfahrungen, die der Gesellschaft besser erspart bleiben sollten.
Auch erste Wissenschaftler bekommen Bauchschmerzen: „Wir beschäftigen uns seit vielen Jahren mit der virtuellen Realität und waren schon in wesentlich besseren VRs als die meisten Menschen“, sagt der Philosoph Thomas Metzinger von der Uni Mainz, „wir müssen die Menschen darüber aufklären, dass wir im gegenwärtigen Stadium noch nicht wissen, welche psychischen Langzeitfolgen die Nutzung der Technologie hat.“ Metzinger belegt mittels interdisziplinärer VR-Experimente seine These, dass unser Ich-Gefühl nicht notwendigerweise an unserem eigenen inneren Bild des Körpers hängt. Ein Avatar kann sich deshalb anfühlen, als gehöre er zu uns selbst. Das macht die Technologie mächtig und gefährlich, warnt Metzinger: „Eine drohende Gefahr sind militärische Anwendungen, beispielsweise auch durch Geheimdienste.“ Sie könnten sie zur Folter einsetzen. Verschiedene Experimente in den vergangenen Jahren zeigen aber auch das Potential. Wegen Gewalt gegen Frauen verurteilte Straftäter wurden in Spanien mittels Virtual Reality in Körper deutlich kleinerer Frauen versetzt, die dann von einem großen, furchteinflößenden Mann bedroht wurden. Das sei eine sehr reale Erfahrung gewesen, schilderten die freiwilligen Probanden später den Versuchsleitern des EU-Projektes VERE. Sie spürten quasi am eigenen Körper, was sie ihren Opfern angetan hatten. So etwas könnte der Resozialisierung dienen, so die Idee der Forscher. Andere Menschen legten ihre rassistischen Vorurteile ab, nachdem sie mittels VR in die Körper von Farbigen versetzt wurden, und Probanden, die als Superman inkarniert wurden, verhielten sich auf einmal großzügiger. Wer hingegen in eine ältere Version seines eigenen Körpers versetzt wurde, legte später mehr Geld für die Rente an: die Illusion veränderte das reale Leben. Die Versuche zeigen auch: mit Virtual Reality kann man Menschen manipulieren. Wo ist die Grenze? Zusammen mit Michael Madary von der Uni Mainz hat Metzinger nun Fachmagazin „Frontiers in Robotics and Artificial Intelligence“ den ersten Ethikkodex für die Virtuelle Realität verfasst. Schließlich gibt es viele Fragen zu klären: wenn Menschen in einem anderen Körper freigiebiger sind – ist ihr Geld dann real auch weg? Darf man Menschen beispielsweise mittels Werbung manipulieren, wenn sie sich gerade in einem Körper aufhalten, der sie empfänglicher dafür macht? Die Forscher empfehlen der Gesellschaft, die Nutzung von Avataren entsprechend zu regulieren. Darüber hinaus sollten die Menschen aufgeklärt werden, dass ein Aufenthalt in der Virtuellen Realität anhaltende soziale Halluzinationen auslösen kann und dass das Risiko, angesichts von Gewaltdarstellungen Traumata zu erleiden, mit der neuen Technologie wächst. Grenzen der realen Welt sollten auch Grenzen in der virtuellen bleiben, fordern die Forscher. Sie fürchten, dass Nutzer die Technologie auch als Möglichkeit sehen, Gesetze straflos zu überschreiten. Aber ebenso wie Folter könne auch eine virtuelle Vergewaltigung die gleichen schlimmen Folgen haben wie in der Realität. Nicht zuletzt sollte die Wissenschaft bei ihren Experimenten keine falschen Hoffnungen wecken, raten Metzinger und Madary. Gerade im klinischen Bereich ist das heikel: Der italienische Neurowissenschaftler Salvatore Aglioti von der Uni Rom musste kürzlich einen gelähmten Probanden enttäuschen: das Experiment, ihn mittels Computerbrille und einer Gehirn-Computer-Schnittstelle in einen neuen Körper zu versetzen, den er mit Gedankenkraft bewegen kann, scheiterte. Bei anderen hatte das teilweise geklappt. „Zuvor war ich nur gelähmt“, sagte er entmutigt zu Aglioti, „jetzt bin ich richtig gelähmt.“