Reportage Porträt Eva Wolfangel

ZEIT ONLINE, 27.8.2024

Der in Frankreich verhaftete Telegram-Gründer Pawel Durow geriert sich als Redefreiheitsaktivist. Doch es gibt Zweifel, wie unabhängig er von Russland ist.

Der Gründungsmythos der Chat-App Telegram ist eine Heldengeschichte. Im Dezember 2011 hämmerten Polizisten an Pawel Durows Wohnungstür in St. Petersburg. Durow war da gerade 27 Jahre alt und bekannt als Gründer des russischen sozialen Netzwerkes VKontakte. Durow, so erzählte er es einmal einem Journalisten der New York Times, hatte sich schon gedacht, dass sie irgendwann kommen würden. Schließlich gab es bereits Ärger mit dem russischen Staat, weil die Nutzerinnen und Nutzer seines sozialen Netzwerkes VKontakte einfach unzensiert alles posten durften, was sie wollen.

 Aber Pawel Durow fürchtete sich nicht, so wie es sich für einen Helden gehört. Er habe einfach die Tür nicht geöffnet. Die Beamten seien nach einer Stunde erfolglos wieder abgezogen. In der Zwischenzeit sei ihm die Idee gekommen, Telegram zu gründen. Durow erzählt, er habe seinen Bruder kontaktieren wollen, als die Polizei vor seiner Tür stand, weil er nicht wusste, wie er reagieren sollte. "Da wurde mir klar, dass ich keine sicheren Kommunikationsmöglichkeiten habe", sagt er der New York Times. Schließlich könnten die Behörden womöglich mitlesen oder mithören.

Kurz darauf, im Jahr 2013, erschien die erste Version von Telegram. Zunächst eine App, mit der man zu zweit chatten kann, später kamen Funktionen hinzu wie Sprachnachrichten, Videoanrufe und die Möglichkeit, sehr große Gruppen zu unterhalten. Im Funktionsumfang ist sie vergleichbar mit WhatsApp. 900 Millionen aktive Nutzerinnen und Nutzer hat die App nach eigenen Angaben weltweit.

Am Sonntag war Durow erneut mit Polizisten konfrontiert. Diesmal waren es allerdings französische, und sie klopften nicht an seine Wohnungstür, sondern nahmen ihn am Flughafen in Paris fest, als er dort mit seinem Privatjet landete. Es gibt in Frankreich offenbar einen Haftbefehl gegen ihn, da er, so der Vorwurf, nicht genug gegen Drogenhandel, Betrug und Vergehen im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch bei Telegram unternommen habe.

Telegram weist das alles als "absurd" zurück. Durow habe "nichts zu verbergen" und reise häufig in Europa, hieß es in einer Stellungnahme. Auch Verbündete feiern ihn als Helden der Redefreiheit. "#FreePavel" postete etwa Elon Musk.

Ein junger Russe, verfolgt vom eigenen Staat, wird zum Verfechter der freien Rede – und dann von einer westlichen Regierung festgenommen, weil auf seiner Plattform zu viel Redefreiheit herrscht. Das klingt nach einer guten Geschichte. Aber stimmt sie auch? Es gibt jedenfalls berechtigte Zweifel daran, wie unabhängig Durow tatsächlich vom russischen Staat ist – und wie ehrlich sein Interesse an Redefreiheit.

Zumindest vordergründig hat Durow kein Interesse, mit irgendeiner Regierung zusammenzuarbeiten, weder der russischen noch sonst einer. Aufforderungen der russischen Behörden, die Inhalte seines sozialen Netzes VKontakte unter anderem um einige oppositionelle Gruppen und deren Posts zu zensieren, konterte er öffentlich und ausgerechnet auf der US-Plattform Twitter – im Dezember 2011 zum Beispiel mit dem Bild eines Hundes im Hoodie, der grimmig dreinblickte und die Zunge herausstreckte. Durow schrieb dazu: "Offizielle Antwort an die Geheimdienste".

Das war kurz vor dem Besuch der russischen Polizei an seiner Wohnungstür. Auch mit Telegram gab es immer mal wieder Probleme mit dem russischen Staat, und Durow wanderte schließlich aus. Er sei ein "Bürger der Welt", sagte er der New York Times, er halte nicht viel von Grenzen und Nationalstaaten. Heute lebt er wohl hauptsächlich in Dubai, besitzt aber auch die französische Staatsbürgerschaft.

Die Geschichte, die Durow damals von sich erzählte, als ein Kämpfer für Oppositionelle, ging auf. Die New York Times zitiert Durow damit, dass er den Frieden liebe, dass er nicht viel von Religion halte und dass ihm Reichtum nicht wichtig sei (auch wenn er damals gerade VKontakte für eine ungenannte Millionensumme verkauft hat). Die Zeitung beschreibt bewundernd, dass Telegram "eine bewusst komplexe Struktur aus weltweit verstreuten Briefkastenfirmen" aufgebaut habe, "um Vorladungen einzelner Regierungen immer einen Schritt voraus zu sein".

Das stimmte offenbar – wurde aber schnell auch aus Sicht westlicher Regierungen zum Problem. Denn die große Freiheit auf Telegram nutzen auch Cyberkriminelle, Rechtsradikale und Pädokriminelle. Ermittler stellten fest, dass Briefkastenfirmen den Nachteil haben, dass man dort niemanden erreicht. Seither beißen sich verschiedene Behörden ebenso wie Journalisten die Zähne aus beim Versuch, Pawel Durow zu erreichen. Zum Beispiel, weil vieles hierzulande illegal ist, was auf Telegram einfach offen verhandelt wird. Dort werden Missbrauchsdarstellungen von Minderjährigen offen verbreitet, Drogen angeboten, mutmaßlich werden sogar Terroranschläge geplant.

 

Versuche, solche Inhalte löschen zu lassen oder von Telegram Daten von kriminellen Nutzern zu bekommen, verliefen im Sand. Auch deutsche Behörden versuchten mehr als ein Jahr lang, Pawel Durow zu erreichen, doch der reagierte einfach nicht. Das angebliche Büro in Dubai entpuppte sich als nicht mehr als ein Briefkasten.

Nach mehr als einem Jahr erfolgloser Kontaktversuche drohte die deutsche Innenministerin Nancy Faeser schließlich damit, Telegram in Deutschland sperren zu lassen. Woraufhin es im Jahr 2022 tatsächlich dazu kam, dass Telegram sowohl Nutzerdaten an die deutschen Behörden weitergab als auch einige Inhalte löschte. Pawel Durow habe sich höchstpersönlich per Videocall mit Faeser ausgetauscht, schrieb das Innenministerium.

Das wiederum wirft die Frage auf: Welche Daten teilt Durow mit der russischen Regierung? In Russland blieb es nicht bei Drohungen: Es gab tatsächlich mehrfach Blockaden des Dienstes, weil unliebsame Inhalte russischer Oppositioneller den dortigen Behörden aufstießen.

Im April 2018 weigerte sich Durow noch öffentlichkeitswirksam, dem russischen Geheimdienst kryptografische Schlüssel zu geben, mit denen dieser verschlüsselte Chats auf Telegram mitlesen kann. Daraufhin wurde Telegram in Russland gesperrt. 2020 erklärte die russische Regierung hingegen plötzlich, man habe sich geeinigt, und Telegram sei von Russland aus wieder erreichbar.

Worauf sich Durow mit dem russischen Staat geeinigt hat, blieb unklar. Telegram selbst sagte gegenüber dem US-Medium Wired, man habe keine Zugeständnisse gemacht, die angebliche Einigung sei nur eine Behauptung der russischen Behörden. Durow selbst aber erklärte, man habe neue Methoden entwickelt, um Terrorismus zu bekämpfen und extremistische Propaganda zu löschen. Wie das gehen soll angesichts der Behauptung, dass Telegram eine sichere und verschlüsselte Plattform sei, führte er nicht aus. Seither ist Telegram in Russland wieder erreichbar und hat viele Millionen Nutzende. Auch der russische Staat nutzt die Plattform für Propaganda.

Der russische Markt ist wichtig für Durow, der seit einigen Jahren damit experimentiert, wie er mit Telegram Geld verdienen kann. 2018 baute er eine eigene Blockchain – das Telegram Open Network – und eine eigene darauf basierende Kryptowährung. Dafür erhielt er laut Wired größere Investitionen von russischen Oligarchen, die dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nahestehen. (Der Kurs fiel nach der Verhaftung Durows stark.)

Wer Durows eigene öffentliche Verlautbarungen verfolgt, sieht, dass der Telegram-Gründer jedenfalls keine Geldprobleme hat. Er führt das Leben eines reichen Influencers und prahlt gerne mit seinem millionenschweren Kryptovermögen und seinen Reisen. In seinem Telegram-Kanal postet er Bilder aus Dubai und zuletzt von Reisen unter anderem nach Kirgisistan, Usbekistan und Kasachstan.

Auch aus technischen Gesichtspunkten gibt es Zweifel daran, wie ernst Durow seinen Einsatz für die freie Rede von Unterdrückten meint. Denn auch wenn Telegram immer wieder als sicherer Messenger beworben (und auch von Medien so bezeichnet) wird: Der größte Teil der Kommunikation über Telegram ist eben gerade nicht sicher. Nachrichten sind in der Standardvariante nicht verschlüsselt, anders als bei anderen Messengern wie Signal oder WhatsApp. Es gibt zwar eine Funktion, um zumindest private Chats zu verschlüsseln, doch die ist recht versteckt. Viele unbedarfte Nutzer finden sie nicht und kommunizieren unverschlüsselt. So sitzt Telegram auf einem Datenschatz, denn es gibt keine technische Hürde, die das Unternehmen daran hindern würde, diese Unterhaltungen mitzulesen.

 

Doch selbst die verschlüsselten Chats könnten angreifbar sein. Unter anderem haben immer wieder Forscher aus der Kryptografie Schwachstellen festgestellt, die zwar häufig sehr komplex auszunutzen gewesen wären und vermutlich nicht von Kriminellen oder Spionen genutzt wurden, die aber auf eine gewisse Lieblosigkeit oder auch fehlende Expertise hindeuten in Bezug auf die Verschlüsselung.

Oder gibt es doch eine Hintertür?

Anfang März 2022 erlebte Marina Mazapulina etwas ganz Ähnliches wie Pawel Durow zehn Jahre zuvor: Die russische Polizei hämmerte an ihre Haustür. Davon berichtete die Oppositionspolitikerin, die inzwischen ausgewandert ist, auf der Plattform X. Auch sie öffnete die Tür nicht und hoffte, die Beamten würden wieder gehen. Sie habe währenddessen in einem "sicheren Chat" – also einem verschlüsselten – auf Telegram mit ihren Freundinnen geschrieben, sinngemäß: "Die werden doch nicht die Tür eintreten." Doch das taten sie schließlich, schreibt Mazapulina. 

Später im Polizeigewahrsam habe einer der Beamten ihr erklärt, dass sie wussten, dass sie zu Hause war. Denn sie hätte ja mit ihren Freundinnen diskutiert, ob die Tür aufgebrochen werden würde. Der Beamte habe ihre Telegram-Nachrichten wörtlich zitiert. "Sie haben meine Nachrichten einfach gelesen, während sie vor der Tür standen", schlussfolgert Mazapulina.

Der Fall scheint die Befürchtung zu bestätigen, dass russische Behörden eine Hintertür in den Messenger haben, dass also Telegram den russischen Behörden Zugang zu "geheimen Chats" gibt. Telegram selbst hat das immer wieder abgestritten und gemutmaßt, dass die russischen Behörden eine Spionagesoftware nutzten und damit das Handy der Oppositionspolitikerin ausspionierten oder dass es nach ihrer Festnahme durch Software wie Cellebrite geknackt worden sei. Das ist technisch gesehen durchaus plausibel.

Pawel Durow selbst hat das – wie so vieles – nicht kommentiert. Statt der Oppositionellen Mazapulina öffentlich beizuspringen, zog der "Weltbürger" es vor, Fotos von schönen Orten zu posten, sich selbst kunstvoll hineindrapiert in körperengen schwarzen Klamotten.