Bild der Wissenschaft 01/2016
Einige ereignisreiche Tage im Leben des jungen Professors, der sich wie ein Detektiv auf die Spuren der Internetsucht begibt.
Ping! Christian Montag ist gerade im Büro angekommen, hat den Computer hochgefahren und die Bilder des jüngsten Hirnscans geöffnet, schon ertönt dieses vertraute „pling“, das eine Whatsapp-Nachricht auf seinem Smartphone ankündigt. „Dieses Ding“, sagt der 38-jährige Psychologe mit empörtem Unterton und fixiert sein Handy neben der Tastatur, „dieses Ding, das macht uns doch ganz kirre.“ Er angelt danach und stellt es auf lautlos. „Dieses Ding frequentiert unseren Alltag“, setzt er hinterher, „es unterbricht uns ständig beim Arbeiten. Wir können uns gar nicht mehr richtig konzentrieren.“ Er legt es weg und schaut ratlos vom BAP-Poster auf der einen Seite seines Büros zum Foto an der anderen Wand, das ihn selbst als Rockgittaristen zeigt . „Wo waren wir gerade?“
Und damit wären wir beim Thema. Christian Montag treibt die Frage um, wie sich Smartphone, Internet und Co auf unser Gehirn auswirken. Er ist kein Technologiekritiker. Aber als Psychologe weiß er, wie sehr ständige Unterbrechungen unser Arbeitsgedächtnis belasten. „Wir kommen heutzutage gar nicht mehr in einen konzentrierten Arbeitsflow“, sagt er. Denn dafür braucht man eine unterbrechungsfreie Zeit am Stück. Wer zu viele Baustellen gleichzeitig im Arbeitsalltag überblicken muss, der wird unkonzentriert und vergesslich. Und ist am Ende des Tages unzufrieden, weil er nicht recht voran kam. Das zermürbt viele.
Der umtriebige junge Psychologe, der seit 2015 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG als Heisenberg-Professor an der Univerität Ulm gefördert wird, hat schon ohne die Unterbrechungen durch sein Smartphone viele Baustellen. Er erforscht den Zusammenhang zwischen der Technologie und unserer biologischen Ausstattung von allen Seiten – von genetischen Dispositionen bis hin zu Veränderungen in der Hirnstruktur. Er ist einer der wenigen Psychologen mit eigenem Gen-Labor an seinem Institut, und er nennt sich Molekularpsychologe. „Das hat nichts mit der Couch zu tun“, sagt er grinsend. Dafür würde ihm wohl auch die Geduld fehlen. Montag kann Stillstand sichtlich nicht leiden, wenn er warten muss, klopft er mit den Fingern auf den Tisch. Aber denen mit der Couch möchte er mit seinen Methoden helfen: Er ist einer der ersten in Deutschland, die versuchen, die Grundlagen der Internetsucht zu erforschen, um Psychotherapeuten und Psychiatern eine eindeutige Diagnosemöglichkeit an die Hand zu geben. Ein Ziel: die Internetsucht soll in die Diagnosemanuale eingearbeitet werden. Neben den Genen und dem Gehirn zieht er dafür auch die Informatik zu rate.
Die Psychologie und die Informatik: geht das überhaupt zusammen? Wer Christian Montag und seinen Companion Alexander Markowetz einige Wochen später in Siegen trifft, ist versucht zu antworten: nein. Die beiden wirken wie der fleischgewordene Kulturschock zwischen ihren Fächern. Neben Montag, der sein Jacket nie auszieht, sitzt in der Cafeteria der Uni Siegen ein Mann in kurzer Hose und Turnschuhen, von seinem gelben Shirt grinst eine mofafahrende Ratte. „Psychologen haben natürlich NICHT alle eine Zwangsstörung“, sagt Montag leicht gereizt bei trockenem Putengeschnetzelten mit Erbsen. Markowetz findet das sichtlich lustig. Die beiden sollen gleich einen Vortrag auf der weltweit ersten Psychoinformatik-Konferenz halten. Schließlich sind sie ein recht einzigartiges Gespann: der Psychologe und der Informatiker haben sich zusammengetan, um mit Bigdata-Methoden herauszufinden, wie lange Menschen täglich ihr Smartphone nutzen – und wann es zu viel ist.
An der Uni Bonn arbeiteten sie einst 500 Meter Luftlinie voneinanander entfernt, ohne sich zu kennen. Erst aus einer Pressemitteilung der Uni erfuhr Markowetz von Montags Internetsucht-Forschungen. Der Informatiker hatte zuvor alle Professoren der Psychologie angeschrieben und eine Zusammenarbeit angeregt. Keine Antwort. Christian Montag war der einzige seines Fachbereichs, der von Markowetz Vorschlag begeistert war. Auch wenn er sich bisweilen ein wenig wehren muss gegen seine vorlauten Kollegen mit den markigen Sprüchen. „Wenn ich mein Leben lang mit 100 Menschen in einem Keller forsche, dann muss ich mir selbst eine Zwangsstörung zulegen“, setzt der in Siegen noch Einen drauf. Während klassische psychologische Experimente schon mit wenigen Probanden aufwendig seien und versuchten, alle störenden Einfüsse auszuschließen – daher das Bild des Kellers - , biete der Datenschatz des mobilen Alltags eine viel breitere Grundlage. Wozu überhaupt noch klassische psychologische Experimente, fragt Markowtz provokativ. „Du siehst das falsch“, beharrt Montag ernst, „mit Verhaltensdaten kann man Rückschlüsse auf das Gehirn ziehen, aber bildgebende Verfahren werden nicht überflüssig.“ Auf dem Weg zum Vortrag ist Zeit für ein kurzes Interview:
Was wollen Sie dank meiner Daten herausfinden? Gegenfrage: Wie lange haben Sie letzten Mittwoch Ihr Handy genutzt? Äh... Kann ich jetzt nicht mehr genau sagen. Sie können das – wie die meisten Menschen - ganz schwer selbst einschätzen. Besonders dann, wenn es um Technologienutzung geht, die in vielen Fällen unterbewusst abläuft. Das ist das große Problem einer unserer zentralen Methoden: der Selbstauskunft. Angenommen, ich wäre internetsüchtig. Würde ich Ihnen dann auf so eine Frage die Wahrheit sagen? Viele Menschen wollen schon die Wahrheit sagen. Gleichzeitig überlegen sie aber, welche Antwort sozial erwünscht ist. Dies ist besonders bei Fragestellungen der Fall, die mit einem Stigma einhergehen, wie die Untersuchung von Suchttendenzen. Und hier erhoffen Sie sich Hilfe von der Informatik? Ja, denn die Informatik hilft uns echtes Verhalten im Alltag über die Mensch-Maschine-Interaktion zu erfassen. Der Selbstreport wird dadurch aber nicht überflüssig. Der Vergleich beider Datenquellen bringt Einsicht, inwieweit Selbstauskunft und Messergebnis voneinander abweichen. Mit Ihrer App „Menthal“ protokollieren Sie, wann Menschen das Smartphone wie nutzen. Haben Sie keine Bedenken wegen der Privatsphäre? Die Nutzer bleiben anonym und sie haben zugestimmt, Teil unseres Forschungsprojektes zu sein. Wir bekommen außerdem nicht die Inhalte der Kommunikation zu sehen. Wenn andere Unternehmen Daten für den eigenen Profit sammeln, warum sollten wir es dann nicht für die Wissenschaft tun? Was haben Sie mit „Menthal“ herausbekommen? Unter anderem, dass Nutzer ihr Smartphone im Schnitt alle zwölf Minuten entsperren. Knapp drei Stunden sind sie durchschnittlich am Tag online, großteiles beschäftigt mit Massenger-Diensten wie Whatsapp oder sozialen Netzwerken wie Facebook. Das Smartphone klaut uns sehr viel Zeit.
Ein Fernsehteam fängt Christian Montag vor dem Seminarraum in Siegen ab und möchte, dass der Psychologe in der Cafeteria anhand von Studenten problematisches Smartphone-Verhalten identifiziert und seine Arbeit erklärt. „Ihre Forschung lässt sich gut bebildern“, sagt die Redakteurin, deshalb sei er ausgewählt worden. Montag schaut unglücklich. „Nichts gegen Sie, aber das finde ich nicht seriös“, sagt er entschuldigend, „ich habe meine Standards, ich mache hier keine Einzelfallanalyse.“ Nach einigen Diskussionen zieht das Fernsehteam unverrichteter Dinge wieder ab. Montag kennt das schon: Nachdem die Uni Bonn eine Pressemitteilung über „Menthal“ verschickt hatte, wurden die beiden Forscher von Medienanfragen überrannt. In der Öffentlichkeit scheint das Stichwort „Internetsucht“ ein großes Interesse auszulösen.
In Fachkreisen hingegen hingegen steht ihnen noch einige Arbeit bevor. Ein versprengtes Grüppchen lauscht dem Vortrag auf der Konferenz. Montag präsentiert die Zahlen, die „Menthal“ ergeben hat. „Das mag ein ungewöhnlicher Rat sein für viele hier“, schließt er und nimmt einen Teilnehmer aus dem Silicon Valley ins Visier, „aber checken Sie Ihre Mails nicht ständig sondern nur zwei Mal am Tag. Arbeiten Sie lieber konzentriert.“ Die Zuhörer applaudieren. „Toller Talk“, sagt ein Arzt aus einer psychiatrischen Kinderklinik, „genau das sehen wir in der Praxis jeden Tag: Die Patienten erholen sich erst richtig ohne Smartphone und Computer.“ Auch der Kollege aus den USA ist angetan: „Tolle Arbeit, gute Daten!“ Seine deutschen Kollegen müssen sich bisweilen noch anfreunden mit den neuen Forschungsmethoden. „Es gibt natürlich auch Widerstände“, sagt Montag. „Alles Neue ist für manche Leute schwierig, sie müssen sich erst reinarbeiten. Das war bei der Bildgebung auch so.“
Zurück in Ulm glühen im Seminarraum die Köpfe. „Differenzielle Aspekte der Internetsucht“ unterrichtet Christian Montag. Die Bachelor-Studenten im vierten Semester lesen englische Originalstudien, sie halten Referate und werfen mit genetischen und neurologischen Fachbegriffen um sich, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Montag sitzt in schwarzem Hemd, schwarzem Jacket, Jeans und Sneakers auf einem der vorderen Tische, die Beine übereinandergeschlagen. Immer wieder unterbricht er die Referate mit Ausrufen wie: „Achtung, Methodik!“ Er erklärt die Beschränkung von Selbsteinschätzungen, die jeder Psychologe im Kopf haben sollte, und weist auf Zahlen hin, die zu unterschiedlich und daher kaum vergleichbar seien. Ihm ist es sichtlich wichtig, seine Schützlinge zu kritischen, seriösen Forschern zu erziehen.
Christian Montag war einst nicht so zielstrebig wie seine junge Studierenden heute. Genau genommen war er ziemlich ratlos. Was nur tun nach dem Abi? Als Gitarrist hatte er mit seiner Band passable Erfolge, holte den MTV-Award und trat im Vorprogramm bekannter Gruppen auf. Eine Laufbahn als Folkrocker hätte er sich vorstellen können. Aber die Eltern rieten zu „etwas richtigem“, zudem konnte Montag Stillstand noch nie leiden. Also besser eine Bankerlehre als rumhängen. „Aber in der Bank war es schrecklich“, sagt er heute einsilbig. Nach dem Abschluss suchte er etwas neues. Über Freunde kam er auf die Psychologie. „Damit kann man alles oder nichts machen, aber für mich war das ganz gut“, erinnert er sich: so musste er sich nicht zu sehr festlegen. Der Student probierte es als Praktikant im Gefängnis und bei einem Versicherungskonzern, wo er Auswahlverfahren für Bewerber begleitete. „Das war alles ganz ok. Mehr aber auch nicht.“ Er suchte mehr etwas, wofür er brennen kann. Das fand er schließlich nach seinem Abschluss: er blieb an der Uni und wurde Forscher.
Auf die Frage der Internetsucht ist er schon als Student gestoßen, als er 2005 Deutschkurse an der Tongji-Universität in Shanghai gibt. Was er dort sieht, bedrückt ihn. Er zeigt Fotos von einer Hochzeit in Shanghai und einem Mönch in Tibet: alle starren auf ihre Handys. In Asien mag das extremer sein, aber in vielen Lebensbereichen hat Montag ähnliche Phänomene in Deutschland beobachtet: „Wir starren auf unsere Smartphones und verpassen das echte Leben.“
Seither versucht er akribisch, der Internetsucht auf die Spur zu kommen. Das wissenschaftliche Interesse daran nimmt zu, 2013 gab es weltweit schon mehr als 180 Publikationen. Montag ist einer der ersten, der einen genetische Gemeinsamkeit zwischen Internet- und Nikotinabhängigen nachgewiesen hat. Insgesamt gilt aber Vorsicht, warnt Montag, es gibt kein Internetsucht-Gen. Wie groß der Einfluss der Gene ist, ist eine der heiß diskutierten Fragen der Wissenschaft. Die Umwelt beeinflusst uns mindestens ebenso wie unsere biologischen Anlagen. „Wir stehen vor mehr Fragen als Antworten“, gesteht Montag. Aber das treibt ihn an. In der Seminarpause an der Uni bleibt Zeit für weitere Fragen:
Ist Internetsucht eine eigenständige Krankheit, die eine vollwertige Diagnose rechtfertig? Das kann ich abschließend noch nicht beurteilen. Wir sammeln derzeit Indizien, die in die eine und in die andere Richtung deuten, wie Detektive. Könnte es nicht auch eine Begleiterscheinung einer anderer psychischen Krankheit sein? Auch diese Frage stellen wir uns. Kürzlich haben wir in einer Studie mit 900 Probanden herausgefunden, dass die Übernutzung des Internets häufig mit ADHS einhergeht. Aber eben nicht immer. Andere Forschung haben einen starken Zusammenhang zu Depressionen gefunden. Auch das haben wir beobachtet, allerdings war in unserer Studie der Zusammenhang zu ADHS deutlicher ausgeprägt. Erste Fallstudien zeigen, dass neben der klassischen Verhaltenstherapie eine pharmakologische Behandlung von Depressionen und ADHS auch gegen Internetsucht helfen kann. Dies gilt aber eben nicht in allen Fällen. Es gibt scheinbar auch eine andere Internetsucht, unabhängig von Depressionen und ADHS. Sie haben eine Reihe an spezifischen Internetsüchten festgestellt: Einkaufssucht oder Pornosucht. Sind manche Menschen, die viel im Internet unterwegs sind, vielleicht klassischen Süchten verfallen und nur deshalb ständig online, weil sie dort am einfachsten Zugang zu ihrem Suchtmittel bekommen? Sicherlich spielt die ständige Verfügbarkeit eine wichtige Rolle. Es gibt aber auch eine große Gruppe, die im Internet eher unspezifische Dinge tut. Aufgrund unserer Daten würden wir von einer generalisierten Internetsucht sprechen, wenn die genutzten Inhalte ohne das Internet nicht existieren würden, wie soziale Onlinenetzwerke.
Detektiv Montag geht jedem Hinweis nach. Oft sitzt er an seinem Computer und schaut die Bilder aus dem Magnetresonanztomographen an, die ebenfalls helfen sollen, Licht ins Dunkel zu bringen. Studien haben gezeigt, dass der Präfrontale Kortex bei vielen Internetsüchtigen verkleinert ist. Dieser Teil des Gehirns wird mit der Fähigkeit assoziiert, sich selbst zu regulieren. Was bei Freud das Über-Ich war, das uns daran hindert, unsere Emotionen bei jeder Gelegenheit frei auszuleben, was uns vernünftig sein lässt, das verorten Hinrforscher dort. Montag hat das passende Gegenstück zu diesem Puzzleteil gefunden: In allen Studien, die diesen Aspekt untersuchten, fand sich ein starker Zusammenhang zur Internetsucht bei Probanden, die angaben, mit der Selbstregulierung Probleme zu haben. Über alle Kulturen hinweg. „Das ist extrem selten, dass man Dinge so gut repliziert bekommt“, sagt Montag und freut sich wie ein kleiner Junge, der gerade entdeckt hat, wo die Eltern die Süßigkeiten verstecken.
„Aber was bedeutet das für die Praxis“, fragt er im Seminar, „was raten Sie einem jungen Internetsüchtigen?“ Schweigen. Die Studierenden haben gerade eine theoretische Fachdiskussion hinter sich, sie haben unter anderem die Rolle von Impulskontrolle und Neurotizismus in Zusammenhang mit Internetsucht diskutiert. Und jetzt will der Prof auf einmal in die Praxis. „Ich weiß nicht, wir gehören ja alle eher nicht zur Gruppe der Internetsüchtigen“, sagt eine Studentin. Aber Montag bleibt hart. „Sie haben gerade nachgewiesen, dass ein geringes Selbstwertgefühl mit Internetsucht zusammenhängt. Wie bringen Sie den Selbstwert eines Jungen hoch, der nur vor der Kiste sitzt?“ „Ihn fragen, was ihm vorher gut getan hat“, sagt eine Studentin zaghaft, „vielleicht hat er Fußball gespielt?“ „Ihn ermuntern, das wieder zu tun“, fällt ein anderer ein. „Sehr gut, genau!“, ruft Montag.
Was kann man tun gegen Internetsucht, wie kann man sich schützen? Jenseits all der Puzzleteile, die Montag sammelt, ist ihm diese Botschaft wichtig: man kann etwas tun. Mit Apps wie „Menthal“ kann man sich bewusst werden, wie viel man online ist. Und das ist der erste Schritt. Sein einfachster Tipp für alle, die das reduzieren wollen: eine Armbanduhr tragen. Denn wer auf dem Smartphone nach der Uhrzeit schaut, bleibt häufig in Mails und Whatsapp-Nachrichten hängen, wie eine seiner Studien ergeben hat.
Wie schön es ist, auch mal offline zu sein, daran erinnert ihn ein Foto auf seinem Schreibtisch: es zeigt ihn mit seiner Frau im Yellowstone-Nationalpark. „Oflfine sein, das geht am besten da, wo man kein Signal hat“, sagt er träumerisch. Denn auch Christian Montag ist trotz allen Wissens nicht gefeit vor den Verlockungen des Internets.