Technology Review, April 2016
Ein Doktorand löst eine Identitätskrise, indem er eine Bewegung für mehr offline-Aktivitäten in seinem Fach gründet. Seither arbeiten immer mehr Informatiker daran, uns im realen Leben zusammen zu bringen.
Als Nemanja Memarovic die Zweifel packen, ist es schon zu spät. Er ist bereits Informatiker. Umgeben von einer technischen Welt, von Kollegen, die vor allem wissen wollen, welche neue Technologie er gerade entwickelt, welche hippe App er programmiert, und von Freunden, die schlagfertige Facebook-Posts von ihm erwarten. Bis zu diesen Wochen rund um Weihnachten 2009 lebt er in einer heilen Welt, in der Facebook seine zweite Heimat ist. Dann zieht der junge Serbe aus New Hampshire, USA, wo er als wissenschaftlicher Mitarbeiter Fahrerassistenzsysteme erforscht hat, nach Lugano. Dort möchte er promovieren. „Bis dahin kannte ich alle meine Facebookfreunde persönlich“, sagt er rückblickend. Doch das ändert sich schlagartig, als das soziale Netzwerk einen Aufschwung erlebt, immer mehr nur über Ecken Bekannte sich mit dem Uni-Absolventen vernetzen wollen und Memarovic durch seinen Umzug zusätzlich einige neue Kontakte gewinnt. Facebook schien auf einmal zu explodieren. Aus der Heimat wurde Fremde. Und Einsamkeit. „Ich wusste nicht mehr, zu wem ich rede, und vorallem auch nicht mehr, wer mir zuhört.“
Die Freude über die neue Doktorandenstelle in Lugano wurde aufgefressen von Zweifeln. Was, wenn uns die Technologie auseinander anstatt zusammenbringt? Diese öffentlichen Displays, die wir unter anderem aus Bahnstationen kennen und die er im Rahmen seiner Dissertation untersuchen sollte: nutzten diese den Menschen? Statt für Werbung könnten diese künftig auch als Kommunikationsmedium in beide Richtungen genutzt werden, so eine Idee der Forscher: Angesichts der Digitalisierung würde diese neue Form des „Schwarzen Bretts“ einen Aufschwung erleben. Memarovic sollte den Forschungszweig in Lugano mit aufbauen. Eine Chance sich einen Namen zu machen. Es gab viel zu forschen: Welche Nachrichten eignen sich für solche Displays? Welche Funktion sollen sie übernehmen? Aber Memarovic stellt auf einmal alles in Frage: „Ich soll hier eine neue Technologie entwickeln“, platzt es aus ihm in einer Besprechung mit seinem Doktorvater an der Uni Lugano heraus, „aber wozu brauchen wir die überhaupt?“ Brauchen wir wirklich noch mehr Medien, noch mehr Tools, fragte er sich.
Und ihm fiel noch etwas seltsames auf: Er konnte sein Smartphone nicht mehr weglegen. Wie ferngesteuert entsperrte er es mehrmals in der Minute, ohne zu wissen wieso. Entsperrte und sperrte es wieder, ohne etwas damit zu tun. Es wurde ihm unheimlich. „Diese Technologie machte irgendetwas mit mir, und ich konnte das nicht steuern“, sagt er heute. Eine bange Frage wuchs in ihm: „Sind wir zu viel online?“ Er wagte es nicht, sie laut zu stellen. Seine Freunde würden lachen. Ein Informatiker kämpft gegen das Internet? Wie albern.
Heute ist Memarovic selbstbewusster. Der 33-jährige Postdoc der Uni Zürich steht auf einem der vielen Plätze seiner neuen Heimat. In seinem eleganten schwarzen Mantel passt er scheinbar gut in die Business-Welt, die den Platz in der Mittasgpause bevölkert. Nur eines fällt auf: alle schauen auf ihr Handy. Memarovic blinzelt in die Wintersonne, genießt den Blick auf den Fluss Limat, eine Kirche, das historische Stadtzentrum – und auf viele Menschen um ihn herum, die in einer anderen Welt weilen. „Wenn Menschen das Wort „offline“ hören, denken sie manchmal, dass ich das Internet abschalten will“, sagt Memarovic und lacht verschmitzt. Er ist ja nicht weltfremd. Aber er findet, dass diese Technologien uns zu sehr auseinander bringen. „Öffentliche Plätze verlieren viel von ihrem Wert dadurch, dass die Menschen das tun“, sagt er und deutet auf die über Displays gesenkten Köpfe. Plätze böten Gelegenheiten sich zu treffen und etwas über andere zu lernen. Während sie diese Funktion früher automatisch hatten, muss man den modernen Menschen ein wenig helfen, miteinander in Kontakt zu kommen. Diese „Tickets to talk“, eine Einladung zur Unterhaltung, zu entwickeln, das sieht Memarovic als eine der wichtigen Aufgaben für seine Zunft: Technologien sollten nicht die Vereinzelung, sondern das Zusammenkommen fördern.
Dass ihm dabei aber so viele seiner Kollegen folgen würden, hätte er nicht gedacht: seit er sich 2012 aus dem Schatten gewagt und einen Workshop auf einer großen Informatik-Konferenz organisiert hat, wächst eine Bewegung in seinem Fach – das gefürchtete Wort sogar im Titel: Computer mediated social offline interaction. Ihr Ziel: „Tickets to talk“, solche wie die „Moment-Machine“ an der Universität Lugano, die Memarovic entwickelt hat. Im Gegensatz zu Facebook, das den Begriff des Moments besetzt hat, schafft seine Maschine reale Momente: eine Real-Life-Application, wie Mamarovic sagt. Sie hat ihn mit seinem Forschungsthema der öffentlichen Displays versöhnt. Die Maschine besteht aus einem großen Display und einer kleinen Kamera. Studierende und Besucher können hier posieren und ihre Bilder entweder lokal belassen oder per Knopfdruck auf die Facebookseite der Moment Machine laden. Die meisten machen das in Gruppen und probieren möglichst verrückte Posen dabei aus. Man sehe dort so viele lachende Menschen, hat ihm einer seiner Interviewpartner seiner Doktorarbeit gesagt, dass er dort immer hin gehe, wenn er traurig sei. Auch Memarovic schaut gerne von seiner neuen Arbeitsstelle an der Uni Zürich via Facebook nach Lugano, stolz darauf, wie seine Entwicklung Freude verbreitet.
Die Maschine ist eines der Dinge, die nach Memarovics innerer Klausur entstanden sind. Sein Doktorvater schickte ihn damals nach Hause mit der Aufgabe sich zu überlegen, was er stattdessen erarbeiten wolle, wenn ihm öffentliche Displays überflüssig erschienen. Nur wo anfangen? Zuerst las er die bisherigen Veröffentlichungen von Kollegen über öffentliche Displays. Die Frage nach dem „wofür“ war nirgends beantwortet. „Es schien gerade so, als ob Wissenschaftler Dinge entwickeln, um hinterher Papiere darüber zu schreiben. Ich wollte aber erst klären, was sinnvoll ist, was die Gesellschaft voranbringt, bevor ich etwas entwickle.“ Er las alle Arbeiten, die er finden konnte, über die Wirkung des Internets auf unser Leben. Da gab es zweierlei: jene, die postulierten, dass uns das Netz einsam macht, und jene, die genau das Gegenteil herausgefunden hatten. „Beide Stapel waren gleich hoch.“ Irgendwie musste er seinen Blick weiten. Er las soziologische und anthropologische Schriften über öffentliche Räume und schließlich die Werke des Medientheoretikers Marshall McLuhan. „The medium is the message“ begeisterte ihn: das Medium ist die Botschaft. Zusammen mit der soziologischen Theorie der „social triangulation“ hatte er den Sinn in öffentlichen Displays gefunden: Sie dienen dann der Öffentlichkeit, wenn der Einzelne Spuren hinterlassen kann und zwei über das dritte Eck – das Display – mit anderen in Kontakt kommen. „So können wir öffentlichen Plätzen ihre Funktion zurückgeben: Menschen zusammenzubringen.“
Später am Züricher Bahnhof fragt eine Frau nach dem Datum. Memarovic überlegt angestrengt, runzelt die Stirn „warten Sie, gleich fällt es mir ein“, aber da wird die Frau ungeduldig: „Sie können doch einfach auf Ihr Smartphone schauen!“ „Will ich aber nicht“, sagt er lächelnd - und dann fällt ihm auch das Datum ein. Für ihn ist das nur ein ganz kleiner Hinweis darauf, was sich eben doch verändert. Früher wusste man das Datum auswendig. Leidet unser Gehirn unter der smarten Entlastung? „Ich sage nicht, dass die Technologie schlecht ist“, betont er. Aber es stört ihn, dass die meisten Forscher und Entwickler die Nebenwirkungen außer acht lassen. „Bei jedem Medikament gibt es Nebenwirkungen – und wir nehmen es trotzdem.“ Aber während diese mit erforscht und bewertet werden, tue die technische Welt gerade so, als gebe es sie hier nicht.
Bis heute hat er trotz aller Fürsprecher immer wieder mit Zweiflern zu kämpfen. Wie, du beschäftigst dich mit Sozialwissenschaften? Du argumentierst mit Medientheorie? Du bist kein echter Informatiker. Aber seit er mit sich im Reinen ist, weiß Memarovic, wie wichtig es ist, sich aneinander zu reiben. „Wenn dir auf einmal alle zustimmen, dann hast du etwas übersehen.“ Memarovic schaut sich dann um: nach dem anderen Stapel. Den mit den gegensätzlichen Erkenntnissen. „Die Welt ist nicht schwarz-weiß.“