Magazin artur, 2/2012 - pdf
Mit Kind im Studentenwohnheim leben – das klingt nach Enge, Trostlosigkeit und Verboten. Aber manche Bewohner fühlen sich dort wie in einem kleinen Schloss.
Die Prinzessin blickt aus ihren Gemächern auf ein Stück Wiese mit jeder Menge Löwenzahn. Ihr Zwölf-Quadratmeter-Zimmer der Wohnung 3D020 im Wohnheim Straußäcker III in Stuttgart Vaihingen teilt sie sich mit einem Kinderhochbett, einer Spielküche und ihrem Hofstaat: der fünfjährigen Lea. Die nimmt die Playmobil-Figur unsanft aus dem Regal und sagt: „Leider hat die Prinzessin kein Schloss.“ Dabei zieht sie so heftig die Schultern hoch, dass ihre unzähligen Zöpfchen hüpfen.
Ein großzügiger Palast ist das Appartement, in dem Lea, ihre Spielzeugprinzessin und ihre 31jährige Mutter Anja leben, tatsächlich nicht. Studentenwohnheim eben: Die immer gleichen Einheitswohnungen, in jeder das immer gleiche Interieur aus Bad, Bett, Besenkammer, Schrank, Schreibtisch und Esstisch. Bilder aufhängen mit Reißzwecken laut Hausordnung verboten. Für Anja und Lea sind die 65 Quadratmeter dennoch ein bisschen wie ein Schloss. Eines, das Anja vor zwei Jahren erkämpft hat, als in ihrem Leben einiges anders kam als erwartet.
Ihr Studium in Gesundheitsökonomie hatte sie gerade abgebrochen, weil ein von frühmorgens bis spätabends gefüllter Stundenplan für eine Mutter nur schwer machbar ist. Schon gar nicht, wenn sie, wie damals noch, eine Fernbeziehung führt. Sie in Bayreuth, ihr Freund – Leas Vater – in Stuttgart. Sie wollte zu ihm ziehen, Geschichte und Kunstgeschichte studieren. Doch die Beziehung ging noch vor dem Umzug in die Brüche. Egal, jetzt wird es trotzdem Stuttgart, beschloss Anja. Ihr erster Anruf galt dem Studentenwerk. „Alles voll“, hieß es. Aber Anja ließ nicht locker, bis sie die Zusage für den Wohnheimplatz hatte. Denn als alleinerziehende Studentin findet sich schwer etwas auf dem freien Wohnungsmarkt.
Beim Einzug stellte sie als erstes die beiden Einheitsbetten aus beiden Zimmern in ihr Schlafzimmer. Legte einen bunten Überwurf darüber, montierte Leas Hochbett im anderen Zimmer und verstaute den Einheitsküchentisch in der Kammer. Die Wohnküche dominiert jetzt eine größere und gemütlichere Tafel. An der sitzt Lea an diesem Abend und mampft Nudeln, während Anja abspült. „Die Wohnungen“, meint Anja, „sind ganz gut angelegt.“ Das große Fenster in der Küche beispielsweise geht über Eck, so dass sie bei der Hausarbeit ihre Tochter immer im Blick hat, wenn die draußen zwischen den Häusern mit anderen Kindern spielt. Ein Wald, in dem Anja oft mit Lea spazieren geht, sowie der Kindergarten „unikids“ liegen in der Nähe. Und die Hausbewohner im Studentenheim sind nett. Wenn Anja mal bis abends an der Uni sein muss, nimmt die Nachbarin Lea zu ihrer Tochter dazu. Andersherum funktioniert es genauso. Es könnte kaum besser sein, findet Anja. Fast ein kleines Traumschloss, dieses Einheitsappartement.
Leider müssen sie und Lea ihr Nest aber bald aufgeben. „Wir wollen hier nicht weg“, sagt sie. Doch das Studentenwerk hat 2010 die Regel eingeführt, dass Studierende nur maximal zwei Jahre im Wohnheim bleiben dürfen. Die Begründung: Es gibt nicht genügend Plätze, unter anderem auch wegen des doppelten Abiturjahrganges. Gerecht findet das Anja nicht. „Kann man für Familien nicht eine Ausnahme machen?“ Schließlich lässt sich die Hochschule derzeit von der Hertie-Stiftung als „familiengerechte Universität“ zertifizieren. Vorschläge von Studierenden für ein besseres Campus-Leben mit Kind sollen mit einfließen. Anja fordert darum gemeinsam mit ihrer Nachbarin Kristina, ebenfalls eine allein erziehende Mutter, dass die Zwei-Jahres-Regelung in den Wohnheimen aufgehoben wird. Mit Glück ändert sich das dann. Für Anja und Lea allerdings zu spät.
Wenige Schritte weiter über den Hof weint Angelina, die Tochter von Anjas Mitstreiterin für einen familienfreundlicheren Campus. „Ich will zu Noah“, schluchzt die Dreijährige. „ Noah ist ausgezogen“, sagt Kristina und streichelt ihrer Tochter über das schulterlange Blondhaar, „seine Eltern studieren nicht mehr.“ Dann nimmt sie die Kleine auf den Arm und wäscht mit der freien Hand Salat fürs Abendessen.
In der Küche stehen kleine Vasen mit Blumen, das Sofa der Oma ist geschickt im Raum platziert, ein schräg drappierter Teppich verwandelt das anonyme Studentenappartement in eine gemütliche Wohnung, die viel größer wirkt als 65 Quadratmeter. Kristina, die Architektin werden will, ist eine begabte Gestalterin. Kreativität braucht sie auch für ihr Leben als alleinerziehende Studentin.
Ein atemloser Tag liegt hinter der 23jährigen Mutter. Weckerklingeln um halb sieben, anziehen, Angelina wecken, Kampf mit Klamotten und müdem Kind, mit dem Fahrrad zum Kindergarten, zurück zur S-Bahn, mit der Bahn zur Uni in die Stadtmitte, ein Stopp am Kaffeeautomat, acht Uhr erste Vorlesung, halb eins Schnitzelbrötchen auf die Hand, zurück in den Arbeitsraum. Mit Kommilitoninnen am Architekturprojekt tüfteln, halb fünf Uhr Reise rückwärts: S-Bahn, Fahrrad, Kindergarten, Fahrrad, endlich daheim.
„Chill doch mal, Kristina“, sagen ihre Freundinnen aus der Arbeitsgruppe dann manchmal. Entspann dich. „Ach, wozu?“ fragt sie zurück. Vor allem aber: wann? Wenn sie um halb fünf zum Kindergarten aufbricht, können ihre Freundinnen im Arbeitsraum noch bis mindestens acht Uhr abends bleiben. Dafür schaltet Kristina um neun, wenn Angelina endlich schläft, ihren Laptop ein und hängt die drei verpassten Stunden dran. Sie will sich nicht nachsagen lassen, nicht ihren Teil zum Projekt beizutragen. „An guten Tagen“, sagt sie, „komme ich um zwölf ins Bett“. Aber die sind selten.
Ein wenig trostlos hört sich das an. Doch Kristina strahlt das Gegenteil aus, sie ist voller Pläne. Nächstes Jahr steht ein Austauschsemester in Straßburg an, mit Kind, „das wird schon gehen.“ Und nach dem Studium will sie ins Ausland. „Im Vergleich zu anderen Studenten geht es mir wirklich gut“, sagt Kristina und ergänzt: „Mir geht es eigentlich überhaupt sehr gut!“