Magazin artur 1/2011 - pdf
Zehn Freiburger Studenten leben im Seniorenheim. Sie sind keine Langzeitstudenten, sondern Teilnehmer eines einzigartigen Projektes, das Alten und Jungen ganz neue Bilder voneinander zeigt.
Heute ist einer der Tage, an denen Elvira Suckow ihr neues Leben zu lieben beginnt. Nie wäre sie aus freien Stücken aus ihrer Wohnung in Berlin nach Freiburg ins Seniorenwohnheim gezogen. Aber was soll man machen, mit 76 Jahren, allein? „Mein Sohn wollte mich in seiner Nähe haben“, sagt Elvira Suckow, eine Frau mit ordentlich nach hinten gekämmten weißen Haaren, und seufzt dabei: „Heimat ist, wo man lachen kann.“ Bei diesem Satz wird ihr Gegenüber hellhörig: Im Speisesaal der betreuten Senioreneinrichtung Albert-Ria-Schneider-Haus in Freiburg sitzt die 24jährige Jacqueline Wilbert. „Und?“ Sie mustert die alte Dame neugierig. „Können Sie hier lachen?“ Schweigen. Dann platzt Elvira Suckow lachend heraus: „Na, ich werde ja dazu gezwungen.“
Die beiden Frauen leben Tür an Tür im Seniorenheim. Jaqueline Wilbert ist eine von drei Studentinnen der Evangelischen Hochschule Freiburg (EH), die vor einem Jahr probehalber dort einzogen. „Wir waren nicht sicher, ob die Idee funktioniert“, sagt EH-Professorin Kerstin Lammer. Sie hat das Projekt gemeinsam mit dem Heim-Vorstand Hartmut von Schöning initiiert. „Wir hatten zu wenige Wohnungen für unsere Studenten, hier aber gab es Platz.“ Die Idee an sich ist nicht neu: In zahlreichen Universitätsstädten wie Tübingen und Freiburg leben Studenten in Wohngemeinschaften mit Senioren. Diese vermieten – meist vermittelt über das Studentenwerk – günstig an die jungen Leute, die ihnen im Gegenzug bei alltäglichen Dingen helfen. Das Albert-Ria-Schneider-Haus in Freiburg ist das erste Heim, das sich einem ähnlichen Modell geöffnet hat: Für wenig Geld mieten inzwischen zehn Studenten ein Zimmer hier und verbringen dafür einen Teil ihrer Freizeit mit den Senioren, gehen für sie einkaufen, veranstalten Sing- und Spielenachmittage. Etwa fünf Stunden pro Woche soll diese ehrenamtliche Tätigkeit umfassen, kontrolliert wird nicht. „Es soll ja Spaß machen und sich nicht wie eine Verpflichtung anfühlen“, sagt Hausleiter Alexander Weißer.
Das ist heute im Speisesaal zu spüren: „Ick bin schonmal gen Westen gereist“, plaudert die Ostberlinerin Elvira Suckow aus ihrem Leben. „Da war mein Sohn gerade geboren, 1953, und im Westen gab's Alete. Aber dann, als die Mauer kam, konnte ich nicht mehr in Westen.“ Jaqueline Wilbert hängt an ihren Lippen. „Und dann?“, fragt sie. Als die Mauer fiel, war sie gerade drei Jahre alt. Zwischen den getäfelten Wänden, dem Klavier und den Trockenblumen wird Geschichte lebendig. Und Elvira Suckow blüht beim Erzählen auf. Den Umzug nach Freiburg bereut sie schon lange nicht mehr. Obwohl das Projekt von Anfang an gut angenommen wurde, mussten die Initiatoren einige Hürden überwinden. Eine davon waren die Bedenken, die einige Ältere hatten. „Studenten sind doch immer so laut“, sorgte sich manche. Die Studenten fragten sich im Gegenzug, ob sie in ihren Zimmern überhaupt Musik hören könnten. Doch viele der älteren Bewohner merken: Die Studenten sind gar nicht so, sie haben immer ein offenes Ohr. Und darum wollen sie „ihre“ Studenten auch nicht wieder hergeben. Doch nach einem Jahr kommt die Ablösung, so will es das Projekt. Dann ziehen zehn neue Erstsemester ins Heim ein. „Aber wie soll das werden ohne den Theo?“, fragt Elvira Suckow besorgt. „Der Theo“ hat es den Senioren besonders angetan. Detlef Theobald ist einer der wenigen Männer im Projekt. Er hat im Wohnheim einen Stammtisch gegründet: Regelmäßig diskutiert er abends mit den Senioren gesellschaftliche und politische Themen. Aber heute ist für Theo Lernen angesagt. Er sitzt in seinem Zimmer und brütet über Ordnern. Ein modernes Bachelorstudium verlangt viel, nicht immer ist es einfach, Zeit für die Senioren zu finden. „Aber es ist mir wichtig“, sagt Theobald, der nach dem Studium als Gemeindediakon arbeiten will. Mit der Che-Guevara-Postkarte an der eingebauten Schrankwand und der Reise-Kaffeemaschine wirkt sein Zimmer wie das in einem normalen Studentenwohnheim. Nur die Flure mit Blumenbildern an der Wand, Rollatoren in den Ecken und dem über allem schwebenden Geruch nach Desinfektionsmitteln erinnern an den ungewöhnlichen Ort.
Auch Jaqueline sollte eigentlich lernen. Aber heute ist es zu spannend. Bis nach dem Abendessen sitzt sie im Speisesaal und schaut auf einem Laptop einen Film über eine Griechenland-Reise an. Den hat Elvira Suckow selbst gedreht und führt ihn nun vor. Selig lächelnd schunkelt sie zur Filmmusik, Jacqueline singt mit: „Wenn der weiße Flieder blüht, küss ich deine roten Lippen...“ Bis vor wenigen Monaten hatte sie das Lied noch nie gehört. Beim ersten Sing-Nachmittag kannten die Senioren die Lieder der Jungen nicht, die wiederum wussten mit dem alten Liedgut nichts anzufangen. Dann haben sie sich ihre Lieder gegenseitig beigebracht. Mal eine andere Studentenparty.