Stuttgarter Zeitung, 08.10.2009 - pdf
Früher hieß der Verein Hilalspor und hatte nur türkische Mitglieder. Heute treten beim FC Stuttgart Spieler aus dreizehn Nationen gegen den Ball. Die C-Jugendlichen Pa-Kully, Sinan und Wael träumen von einer großen Karriere.
Am Hallschlag, wo die Häuser gleichförmig Schlange stehen, eines am anderen, drei Stockwerke, immer gleich, da ist Pa-Kullys Zzuhause. Abends spielt er auswärts. Die massiven Eisenstäbe rattern laut mit jedem Ball, den Pa-Kully und seine Freunde energisch gegen das Metall kicken. Pa-Kully hat breite Schultern und Hummeln im Hintern. „Let’s play Fußball“, ruft er. Oder: „He, rennt doch mal.“ Und, zum Kleinsten in der Gruppe: „Chill doch mal mit dem Ball, chill doch.“
Pa-Kully hat selten Gelegenheit aufzutrumpfen. Der Ausflug vom Brennpunktviertel Hallschlag zum Bolzplatz am Neckar ist ein Highlight, auf das sich der 13-jährige Sohn eines Gambiers und einer Senegalesin täglich aufs Neue freut. Nach der Hauptschule will er Fußballprofi werden. Oder Hotelchef, „weil man da viele Leute trifft.“ So wie sein Vater, der ein gefragter DJ sei.
Zuhause im Wohnzimmer, zwischen dem Bild der Moschee von Medina und dem Fernseher sitzt der Vater. Meist spricht er, Frau und Sohn hören geduldig zu. Vom DJ ist keine Rede mehr. Seefahrer sei er einst gewesen, Singapur, Japan, Panama, die halbe Welt habe er gesehen, erzählt der Vater dem Sohn. Über die Zeitarbeitsfirma und seine Arbeit als Schlosser spricht er nicht so gerne. Auch nicht über den rechtlichen Status der Familie.
Pa-Kully könnte längst Deutscher sein, wäre nicht beim Antragsmarathon durch die Behörden irgendetwas schief gelaufen. „Willkürliche Scheiße“ nennt der Vater das Rechtssystem, das der Familie die deutsche Staatsbürgerschaft verweigerte. Er wolle sich integrieren. „Aber die Deutschen machen es einem nicht leicht.“ Deshalb sei ihm wichtig, dass sein Sohn in der Koranschule ein bisschen mit der Heimatkultur verbunden bleibe. Von Pa-Kullys Zukunftsplänen hält er wenig: „Man muss sich den Kopf halten, so wie er Fußball spielt“, sagt er abfällig. Pa-Kully schaut ihn mit großen dunklen Augen an und schweigt.
Ein paar Tage später und ein paar hundert Meter weiter sieht die Welt ganz anders aus. Sonntags, auf dem Fußballplatz des FC Stuttgart ist Pa-Kully kein schüchterner Bursche. Er sitzt mit Wael aus dem Libanon und Sinan aus der Türkei in der Herbstsonne auf einer Bank am Rande des Spielfeldes. Die Jugendlichen warten auf den Rest der Mannschaft. Jedem Ankömmling geben sie die Hand. Die 13-Jährigen der C2-Jugend sind aufgeregt. Noch zwei Stunden bis zum Anpfiff des Leistungsstaffelspiels gegen Calcio Leinfelden-Echterdingen. „Wir müssen gewinnen um aufzusteigen“, sagt Pa-Kully. Trainer Emin Birinci nimmt ihn in den Arm: „Wir schaffen das schon.“ Birinci könnte Pa-Kullys großer Bruder sein, hätte er nicht eine andere Hautfarbe. Eine multikulturelle Fußballfamilie. Bis vor vier Jahren gab es solche Szenen auf dem Fußballplatz am Hallschlag nicht. Der FC Stuttgart hieß damals noch Hilalspor und hatte ausschließlich türkische Spieler. Für die älteren Gründungsmitglieder war er zu einer Art Heimat im fremden Deutschland geworden. Doch mit dieser Philosophie war keine erfolgreiche Jugendarbeit zu machen. Es gab kaum aktive Mannschaften, Spiele mussten ausfallen, der Verein stand vor dem Bankrott.
Der türkische Geschäftsmann Ömer Cinar beschloss schließlich, in den maroden Verein zu investieren. Unter einer Bedingung: die Öffnung für andere Kulturen als Grundlage für den künftigen sportlichen Erfolg. „Wir gehen mit den Deutschen arbeiten, haben soziale Kontakte, aber gemeinsam Fußball gespielt haben wir noch nicht“, sagte er damals, „das ist doch schade.“
Nicht alle sahen das so. Es gab Streit, viele ältere Mitglieder verließen den Verein. Aber Cinar setzte sich durch. Zwölf Teams mit Spielern aus 13 Nationen von den Bambini bis zu den Aktiven in der Kreisliga trainieren mittlerweile beim FC Stuttgart. Es ist der Migrantenverein mit den meisten Jugendmannschaften in der Stadt, und einer der erfolgreichsten: seit der Neugründung steigen regelmäßig Teams auf. Auch die C2-Jugend gewinnt viele Spiele. Das ist nicht nur für die Jungs jedes Mal ein kleines Fest. Bei schönem Wetter ist die Bank am Spielfeldrand dicht besetzt mit Müttern. Die meisten der Frauen tragen Kopftuch, sie unterhalten sich auf Türkisch. Kaffeeklatschatmosphäre. Immer wenn ein Tor fällt, schauen sie auf und applaudieren. Mittendrin sitzt Sinans Mutter. Sie kommt regelmäßig zu den Spielen. Das, findet sie, sei sie ihrem Sohn schuldig. „Hauptsache, es macht ihm Spaß. Er muss kein großer Fußballer sein .“
Aber Sinan will ein Großer sein, nach dem Abitur möchte er Bundesligaprofi werden. Oder Tierarzt. Er besucht eine von Türken gegründete Privatschule in Bad Cannstatt. „Da wird er optimal gefördert“, sagt sein Vater. Irgendwie ist es mit der Schule wie mit dem Fußballverein: Sie ist offen für andere Nationen. „Deutsche kommen trotzdem kaum“, erzählt Sinans Mutter und zuckt mit den Schultern. So war es auch mit dem Nachbarschafts-Frauencafé, das sie nach dem Umzug an den Burgholzhof initiiert hatte: Die Türkinnen blieben unter sich. „Dabei wollen wir uns integrieren.“
Emin Birinci redet nicht von Integration, das Wort ist für den Trainer der C2-Jugend nur eine Hülse. Er schafft lieber Tatsachen. Vor drei Jahren hat der Deutschtürke Plakate an Straßenlaternen gehängt und für die neue Jugendabteilung des FC Stuttgart geworben. Wenige Tage später war er von 45 Kids umringt, die alle in der neuen C-Jugend spielen wollten. „Ich war überwältigt“, erinnert er sich. Birinci war Verantwortung zugewachsen. Ihm, dem Zwanzigjährigen, der aus ähnlichen Verhältnissen wie viele seiner Schützlinge stammt. Und der heute Sport studiert und ein Trainerpraktikum beim VfB macht. „Ich war wie ihr und schaut, wo ich jetzt bin“, sagt er manchmal zu seinen Jungs.
Es reicht nicht, ein Vorbild zu sein. Birinci und seine FC-Stuttgart-Trainerkollegen haben strenge Regeln eingeführt. Jeder der das Spielfeld betritt, wird begrüßt. Auch Niederlagen sind mit Handschlag hinzunehmen. Entscheidungen des Schiedsrichters? Bloß nicht Meckern. Und weder Mitspieler noch Gegner werden beschimpft. All das war für viele Kids nicht selbstverständlich. Inzwischen kennt Birinci ihre Tricks. Fehlt einer beim Training, ruft er die Eltern an: „Die wähnen ihren Sohn auf dem Fußballplatz, dabei macht er Ärger auf der Straße.“ Am Ende des Schuljahres sammelt der Trainer die Zeugnisse ein und organisiert Nachhilfe. „Die Schule darf nicht zu kurz kommen“, sagt Emin Birinci. Immer diese Hausaufgaben! Wael ist spät dran, als er außer Atem unter der alten Eisenbahnbrücke in Cannstatt ankommt. Vier junge Männer mit Kapuzenpullis und Mützen stehen in der Dämmerung. Die Lichter der Müllverbrennungsanlage Münster auf der anderen Neckarseite lassen die Brückenpfeiler lange Schatten werfen. Ab und zu rattert ein Zug vorbei. Wael schiebt den Ball dribbelnd vor sich her, schüttelt jedem Kumpel die Hand.
Dann eröffnet er das Spiel. Still, konzentriert, voller technischer Trickswird gekickt. Intensiv, konzentriert, leidenschaftlich.. Wael ist der Kleinste in der Runde – und der technisch beste Fußballer. Damit hat er sich Respekt verschafft. Der Junge mit den großen dunklen Augen und dem ernsten Blick, hat die Verhaltensregeln des FC Stuttgart verinnerlicht. Kraftausdrücke sind verboten in der Umgebung, die Bronx-Assoziationen hervorruft.
Im Spätsommer dämmert es oft schon, wenn sich Wael mit seinen Freunden auf dem Bolzplatz am Neckar trifft. Sein Vater besteht darauf, dass er zuerst die Hausaufgaben macht, bevor er loszieht: „Der Junge soll gute Noten nach Hause bringen.“ Der Libanese wurde kürzlich nach zehn Jahren als Teppichleger entlassen. Er ist arbeitslos. Der Sohn darf weiterhin von einem erfolgreichen Leben träumen. Wael, Pa-Kully und, Sinan und Wael verschnaufen unter dem großen Baum am Spielfeldrand. Wie weit führt ihr Weg? Zum VfB? Oder gar in die Nationalmannschaft? Pa-Kully kneift die Augen zusammen. „Vielleicht werde ich im Senegal Nationalspieler. Da habe ich bessere Chancen, ich habe ja einen senegalesischen Pass.“ Mitspieler Sinan fleht: „Bleib bei uns, es läuft doch gerade so gut.“ Pa-Kully schiebt trotzig die Unterlippe nach vorne. „Na wenigstens verarscht mich hier keiner.“ Auf dem Nachhauseweg beschließt er, seine Pläne noch einmal zu überdenken. Dann macht er sich auf den Heimweg. Den Berg hinauf zum Hallschlag.