Ein Weihnachtspost über Fact-Checking – zumindest ein Teil meiner LeserInnen wird mich für verrückt erklären. Doch wenn ich meine Timelines auf Facebook und Twitter so anschaue, gibt es zumindest in meiner Filterblase nicht wenige, die derzeit nicht besinnlich unterm Weihnachtsbaum sitzen, sondern sich Gedanken über unseren Beruf machen.
Der Fall des Spiegel-Redakteurs Claas Relotius, der sich offenbar die meisten seiner Reportagen in großen Teilen ausgedacht hat, hat uns alle schwer getroffen. Wie kann man so etwas in Zukunft vermeiden, fragen sich alle. Ich schreibe hier meine Erfahrungen mit Fact-Checking (also der Faktenprüfung) in verschiedenen Journalismus-Kulturen auf. Als Freelancerin habe ich Einblick in viele Redaktionen - und ich glaube, dass wir Deutschen uns einiges aus dem angelsächsischen Raum abschauen können. Auch wenn ich selbst mit der dortigen Fact-Checking-Kultur zu kämpfen hatte.
Unsere Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel – und offenbar genügt es nicht, sich darauf zu verlassen, dass wir alle unseren Berufsethos ernst nehmen und schon deshalb nichts erfunden wird. Wie können wir garantieren, dass sich LeserInnen darauf verlassen können, in journalistischen Texten keine Lügen und keine Erfindungen zu finden?
Unter anderem steht die so genannte „Dok“ in der Kritik, eine Abteilung beim Spiegel, die sich eigens darum kümmert, die Fakten in Texten zu überprüfen, bevor sie gedruckt werden. Der Spiegel ist eines der wenigen Häuser in Deutschland, die sich eine solche Abteilung leisten. In der angloamerikanischen Kultur ist dieses so genannte Fact-Checking verbreiterer – und es wird vorallem sehr viel konsequenter und vor einem ganz anderen Hintergrund genutzt als in Deutschland.
Da ich denke, dass es für einen größeren Kreis an Menschen interessant ist, wie wir JournalistInnen und verschiedene Redaktionen Fakten checken, schreibe ich hier meine Erfahrungen auf mit dem Fact-Checking von Spiegel, Geo und dem englischsprachigen Magazin nature.
Als kürzlich Riffreporter-Kollege Andrew Curry auf Twitter postete, das Fact-Checking des Spiegel beschränke sich auf das, was aus Hamburg gegoogelt werden könne, regte sich zunächst in mir Widerspruch. Ich hatte die Dok des Spiegel kurz zuvor verteidigt, da ich sie als sehr gewissenhaft erlebt habe in der Zusammenarbeit rund um meine Recherche über Alexander Gerst und die Kosmonauten-Ausbildung im russischen Starcity.
Aber in der Tat: als ich dem Kollegen von der Dok meine gesammelten Kontaktdaten von Protagonisten und Zitatgebern zusendete, antwortet er: „Im Gegensatz zu unseren amerikanischen Kollegen telefonieren wir Fact-Checker beim SPIEGEL den GesprächspartnerInnen unserer AutorInnen nicht hinterher; was die Zitate und Informationen angeht, die aus direkten Gesprächen kommen, vertrauen wir unseren AutorInnen und machen nur, soweit möglich, Plausibilitätschecks. Die von Ihnen netterweise beigefügten Kontaktdaten habe ich daher gar nicht genutzt.“
Es war also beim Spiegel noch nie vorgesehen, den AutorInnen zu misstrauen – und das hatte ich damals auch nicht für ein Problem gehalten (heute wissen wir es besser). Und unter dieser Maxime war der Faktencheck vorbildlich. Der Redakteur bewies ein feines Gespür dafür, wo sich überall kleine Ungenauigkeiten verbergen könnten, und wir verhandelten lange unter anderem darüber, woraus die Außenhülle eines Sojus-Raumschiffes neben Aluminium gesichert besteht (ist Kork darin? Welcher Kunststoff?), welche Art von Blume eine bestimmte Gagarin-Statue in der Hand hält (ich hatte geschrieben eine Rose – doch danach sehe es nicht aus, fand der Redakteur) und wie heiß genau das Plasma beim Wiedereintritt der Sojus-Kapsel in die Erdatmosphäre wird.
Wir haben um Formulierungen gerungen, um den Text nicht zu kompliziert werden zu lassen und dennoch alle Ungenauigkeiten auszumerzen. Selten hat sich jemand so genau mit einem meiner Texte beschäftigt, und ich fand das eine großartige Hilfe! Es machte meinen Text schließlich besser.
Ein halbes Jahr später brach ich für eine Recherche für Geo auf, um vier Protagonisten in den USA, Israel und Kuwait zu besuchen. Schon im Vorfeld wies mich der betreuende Redakteur auf das Fact-Checking hin: ich solle möglichst viele Handyfotos von der Recherche machen, das erleichtere es den so genannten „Verifikations-Redakteuren“ alles nach zu vollziehen. Das half, auch wenn ich mir in der Recherche manchmal schäbig vorkam, die Menschen, die ich besuchte, in ihrem Leid auch noch zu fotografieren. Ich fotografierte vermüllte Wohnungen, fleckige Matratzen, leere Kühl- und volle Medikamentenschränke, Bücherregale, Klingel- und Straßenschilder, Handyfotos von anderen Handys ab, Haustüren und vieles mehr.
Als der Text geschrieben war, erhielt ich ein langes Schreiben von Chefredakteur Christoph Kucklick, das aufzählte, was die Dok alles brauche: unter anderem die Kontaktdaten aller Ansprechpersonen im Text, alle anderen Informationsquellen, die Handyfotos aus der Recherche, und eine Kopie des Manuskripts, auf der jedes Faktum mit einer Quelle belegt ist. Herr Kucklick ergänzte sicherheitshalber: „Das Ziel ist nicht, Sie zu kontrollieren, sondern ausschließlich die Vermeidung sachlicher Fehler.“
Ich habe mich auch nicht kontrolliert gefühlt. Das deutsche Fact-Checking vertraut dem Autor/ der Autorin. (Dennoch wäre Relotius bei GEO früher aufgeflogen – denn es müssen auch Dinge belegt werden, für die beim Spiegel der Quellenhinweis „eigene Anschauung bei der Recherche“ genügt.)
Anders in angelsächsischen Raum. Andrew Curry nennt das Beispiel des National Geographic, dessen Factchecker tagelang versucht hätten, den Hausmeister eines bestimmten Gebäudes in Indien zu erreichen, um die Zahl der dortigen Glühbirnen zu zählen (die ein Freund von ihm in einer Reportage genannt hatte) oder das Beispiel eines Wired-Interviews, in dem er schrieb, dass seine Gesprächspartnerin rauche – woraufhin die Fact-Checker sie anriefen und selbst die Zigarettenmarke verifizieren ließen.
Wenn man als Journalistin aus der deutschen Fact-Checking-Kultur kommt und auf einmal mit der angelsächsichen konfrontiert ist, kann das erstmal ziemlich verstörend sein – so zumindest ging es mir, als ich erstmals 2018 beim Magazin nature mit einem monatelangen Fact-Checking-Prozess konfroniert war: Ich hatte deutlich das Gefühl, dass mir eben nicht über den Weg getraut wird - was dort einfach zum Vorgehen gehört (ich aber nicht wusste).
Das Ganze begann im Sommer mit der netten Mail einer nature-Redakteurin, ob ich nicht einen Artikel für nature schreiben wolle über die deutsche Forschungslandschaft, über die Besonderheiten im Vergleich zu anderen Ländern. Ich freute mich, denn ich hatte ohnehin vor, künftig auch international zu publizieren, noch dazu fand ich das Thema spannend und die Bezahlung schien recht gut.
Doch dann kamen die Nachfragen. Ich hatte in einem Nebensatz über eine Forschungskooperation geschrieben, Deutschland habe eine starke Automobilindustrie, während in Indien die IT-Branche eine große Rolle spiele. „Bitte ergänze hier die Quelle“, stand freundlich-bestimmt an ungefähr 35 Stellen in meinem Manuskript, das mir die Redakteurin einige Tage nach Abgabe per Google Doc zurück schickte. „Ist das nicht Allgemeinwissen mit der deutschen Autoindustrie?“, versuchte ich es zunächst vorsichtig. Aber nein: für alles braucht es eine Quelle.
Wir haben dieses Dokument bestimmt 20 Mal hin und hergeschickt, jedes Mal gab es neue Nachfragen nach Quellen – und schließlich ging es an den Vorgesetzten meiner Kontaktperson, der noch weitere Dinge belegt haben wollte. Unter anderem das Zitat einer hochrangigen Ministerial-Beamtin über die Frage, wie beliebt Deutschland als Wissenschaftsstandort ist. Es sei der „viert begehrteste Lern- und Arbeitsort für ausländische Wissenschaftler“, hatte sie mir im Interview gesagt. „Dazu bitte einen Link, der diese Zahl belegt.“ Ich erwiderte: meine Quelle ist das Interview, das hat sie mir persönlich so gesagt.
Doch das reichte nicht.
Ich schickte das Zitat erneut zum Ministerium mit der Bitte, es zu autorisieren. Es wurde zwei Mal autorisiert. Ich schickte diese Information an den nature-Redakteur. Aber nein, er wolle bitte eine schriftliche Quelle, einen zweiten Beleg. Doch ich fand nur Zahlen, die leicht andere Zusammenhänge ausdrückten. Die Zahl der internationalen Studierenden in Deutschland und den entsprechenden Rang (Rang fünf), sowie die Zahl von Wissenschaftlern, die zwischen 2006 und 2016 eingereist waren (Deutschland belegte hier Rang 3).
Ich rief erneut den Sprecher des Ministeriums an, der angesichts meiner nicht enden wollenden Nachfragen hörbar genervt antwortete, er sei im Stress – es war inzwischen eine Woche vor Weihnachten – und ich solle doch bitte in dieser und jeder Studie selbst nachsehen. „Das habe ich getan, aber da kommt diese Zahl nicht vor.“ Das sei nicht üblich, sagte er ungehalten, üblicherweise genüge es, wenn das Zitat autorisiert ist – und wenn es die Beamtin so gesagt habe, dann könne nature davon ausgehen, dass es stimme. Ich traute mich angesichts der geladenen Stimmung kaum, das zu fragen, aber tat es dann doch – ich brauchte doch meine Quelle: Ob er die Beamtin eventuell nach einer Quelle fragen könne?
Zwischenzeitlich hat mich dieser Fact-Checking-Prozess zugegeben an meine Grenzen gebracht. Weil er so unerwartet war. Ich war die deutsche Kultur gewohnt, in der mir als Autorin eines journalistischen Artikels per se geglaubt wurde. In der es nicht darum ging, mich anzuzweifeln sondern nur mir zu helfen, keine Fehler und Ungenauigkeiten zu produzieren. Ich dachte: diese Redakteurin mag mich nicht. Oder: sie hält mich für eine Anfängerin.
Dann geschahen zwei Dinge nahezu gleichzeitig: Der Spiegel deckte den Fall Relotius auf. Und die Beamtin des Ministeriums meldete sich zurück und änderte ihr Zitat - das sie zuvor autorisiert hatte. Es gebe das entsprechende Ranking nicht. Die ursprünglich genannte Zahl war also falsch. Und sie wäre so veröffentlicht worden, hätte nature nicht beharrlich nachgefragt.
Diese beiden Ereignisse haben mich mit dem angelsächsischen Fact-Checking-Prozess versöhnt. Es mag naiv gewesen sein zu glauben, dass sich alle JournalistInnen an unseren Kodex halten, dessen oberste Maxime es ist, nichts zu erfinden. Wir alle sind kurz vor Weihnachten eines besseren belehrt worden. Wenn nun unter den Tannenbäumen die Köpfe rauchen und so recht keine Besinnlichkeit aufkommen will, dann hat es zumindest ein Gutes: wir werden Lösungen finden, wie wir solch unlautere Wege wie die des Claas Relotius in Zukunft mit Steinen und Hindernissen pflastern. Einiges dafür können wir uns aus dem Angelsächsischen abschauen. Ich bin mir nicht sicher, ob Relotius damit vor seinem ersten Schwindel aufgeflogen wäre. Aber zumindest sehr viel früher. Das hätte deutlich weniger Schaden angerichtet.